WIESN III

scheisszeitenwende 12

Als der Mann noch lebte, sind sie zweimal im Jahr auf die Wiesn gegangen. Einmal am Samstag, wenn die Sechziger daheim spielten. Und einmal wochentags, noch vor dem Mittagsläuten.

Am Samstag sind Angela Nixdorf und ihr Mann ins Zelt. Am liebsten zum Augustiner. Sie hatten zwei Plätze reserviert, Angela trug ein Dirndl mit einem bemerkenswerten Ausschnitt. Herbert machte etwas her in seiner kurzen speckigen Lederhose, dem Baumwollhemd mit den offenen Knöpfen an der Brust, mit dem dunkelbraunen Janker, den sie ihm gestrickt hatte. Sie setzten sich und hatten eine gute Zeit. Gegen fünf Uhr nachmittags stießen Freunde zu ihnen, die zuvor im Stadion gewesen waren, es wurde lustig, laut, betrunken kamen sie um elf zuhause an, am nächsten Morgen machten sie sich über ihre Dummheit lustig, in ihrem Alter noch so zu saufen.

Am Wiesn-Werktag tranken sie nur Kaffee und aßen Apfelstrudel beim „Käfer“. Es war nicht laut, sie waren verliebt, auch in ihrem Alter noch.

Jedes Jahr ein Rausch und ein romantischer Vormittag, so hatte es sich eingebürgert. Halt – in dem Jahr, als die „Mauer“ fiel, hatte Angela eine schlimme Grippe, und sie ließen die Wiesn ausfallen. Dafür hat er sie gepflegt und versorgt und ist vor Kummer selbst krank geworden, als sie wieder auf den Beinen war. Zwei Jahre drauf hatte er wegen der Prostata ins Krankenhaus gemusst – da ist sie nur einmal (er war ja in der Klinik gut versorgt) am Samstag mit den Freunden im Augustiner gewesen.

Im neuen Jahrtausend war es nicht mehr so arg mit den Räuschen – man hat halt den Alkohol nicht mehr so gut vertragen.

Dann ist er krank geworden – das war im März 2011. Die Ärzte haben nicht mehr helfen können und gemeint, er soll tun, worauf er Lust hat.

Ins Augustiner wollte Nixdorf nicht mehr. Sie sind noch zum „Käfer“ – aber auf den Kaffee hin musste er sich übergeben, und auch den Apfelstrudel hat er nicht bei sich behalten können. Es war eine rechte Plagerei.

Im Januar drauf ist er gestorben. Das ist eine Schande gewesen, wie ihn die Krankheit aufgefressen hat. Er war immer ein braver Mann gewesen. Jetzt musste er für etwas büßen, was er nicht angestellt hatte.

Damit war es gelaufen für Angela Nixdorf. Sie hat sich die restlichen Jahre bis zur Pensionierung durchgewurstelt. Als sie von ihrer letzten Klasse verabschiedet wurde, tanzten die Schülerinnen zu „Simply the Best“, aber die Kollegen tuschelten, sie sei nicht die Beste gewesen, sondern eine missmutige Amsel, die jederlei Tratsch verbreitete und der man nicht über den Weg trauen darf. Sie sei der Blockwart der Schule gewesen – gut, dass die Person in die Rente abschob.

Rentnerin. Ohne Lust und ohne Hoffnung. Pünktlich aufstehen, aber keiner wartete auf sie. Kein Schüler, den sie kujonieren konnte. Kein Kollege zum Anschwärzen. Schier endlose Tage. Erst am frühen Abend der Wein. Um zehn das Glas gespült, die leere Flasche in den Müll, die schadhaften Zähne geputzt, mit dem zerschlissenen Nachthemd ins Bett, eine halbe Schlaftablette und die Diabetes-Medikamente eingenommen, das Licht gelöscht, auf den Schlaf gewartet.

Am nächsten Morgen um halb sieben piepte der Wecker. Nächster Tag, ohne Lust und ohne Hoffnung.

Zweimal in der Woche der Einkauf, im Supermarkt-Bistro ein Kaffee und ein Croissant. Einmal im Monat zu Herberts Grab. Pünktlich von drei bis dreiviertel vier ein Spaziergang im Park, Ausnahmen waren nicht drin. Keine Krankheit. Keine Anrufe.

Beste Zeit des Jahres war Ende September. Dann fuhr Angela Nixdorf mit der U-Bahn zur Wiesn und sah den Menschen zu. Täglich um drei ging sie am Haupteingang aufs Festgelände und ließ sich treiben. Um fünf trank sie am Schnapsstand zwei Obstler und um sechs im Weinzelt ein Viertel Grünen Veltliner.

Um sieben hatte sie ein Räuscherl und war wieder einmal bestätigt, dass alles schlecht war. Sie fuhr mit der U-Bahn nach Hause, machte ein Flascherl auf, sie war bester Laune, weil es ihr so mies ging.

Dann kam Corona.

Wiesn-Zeit war. Angela Nixdorf saß aber allein im Lockdown, beschissener war es ihr noch nie gegangen. Wie ihr das abging: der tägliche Gang zu den fidelen Leuten, mit denen sie rein gar nichts zu tun haben wollte.

Dieses Corona hat Frau Nixdorf als persönliche Verschwörung empfunden.

Gottseidank darf sie jetzt wieder zum Oktoberfest. Mit mürrischer Miene marschiert sie durch den Haupteingang. Heute, am ersten Tag, wird sie sich einen Obstler zusätzlich genehmigen. Gleich jetzt, rechts nach hundert Schritten, ist ein Stand. Sie landet am Tresen, bestellt das Getränk. Sieht angewidert auf das Stamperl, führt es zum Mund, schluckt auf ex, kneift die Augen zu, weil es in der Kehle brennt, öffnet die Augen wieder und setzt sich in Bewegung.

Auf geht’s zum Granteln.