WIESN II

scheisszeitenwende 11

Als der Brusca starb, war Cristina fast froh.

Sie war in der Stadt gewesen. Das war damals in Stuttgart, sie erinnert sich noch immer gern an das schwarze T-Shirt mit dem Benetton-Aufdruck in allen Regenbogenfarben, das sie heruntergesetzt in der Königstraße gekauft hatte, danach hatte sie einen Sekt vor dem Schloss gehabt, am nächsten Tag würde der Canstatter Wasen beginnen, das Wetter war prächtig, sie würden mit ihrem Weißbier-Karussell gutes Geld machen. Dann öffnete sie die Tür des Wohnwagens und sah die bizarr verwrungene Leiche ihres Mannes. Er hatte im Todeskampf in die Trainingshose gekotet, es stank im Wagen, also ließ Cristina die Tür geöffnet und stieß das Panoramafenster auf, bevor sie den Notruf wählte.

Der Brusca hatte Rotwein getrunken und die gazetto dello sport gelesen, als es passiert war. Er war vom Stuhl gesackt, hatte sich eingemacht und war dann auch schon weg gewesen. Jetzt lag er da, zusammengekrümmt, hinten stockte die Scheiße, aus der Nase lief ein wenig Blut auf den schönen Boden.

Cristina schaute auf den Mann, mit dem sie fast 30 Jahre verheiratet gewesen war, und wartete auf den Notarzt. Sie schüttelte den Kopf – nicht, weil sie verwirrt gewesen wäre, sie wollte nur ihren Kopf auslüften und das Richtige tun -, stand auf und kochte Kaffee für die Rettungskräfte und die Polizei. Sie rief übers Handy die Kinder zusammen. Raffaela gastierte mit dem Scooter in Rostock, Gabriele baute die Geisterbahn in Essen auf, Paolo hatte das Gastspiel in Landshut gerade beendet und fuhr mit dem Weinzelt nach Österreich. Anders als Cristina waren die Kinder schockiert, sie versprachen, so schnell wie möglich zu kommen. Cristina beruhigte sie. Sie wollten erst die Geschäfte regeln – alles müsse auch in den nächsten Tagen weiter laufen. Den Rest werde man dann in Ruhe erledigen.

In Stuttgart besprach sie sich mit ihrem Ersten Angestellten. Angelo erklärte, er werde die Sache richtig machen, die Chefin solle sich erst einmal um die Beerdigung kümmern. Er war froh, dass er zeigen durfte, was in ihm steckt. So gefiel ihm das: Der Chef war nicht mehr im Weg, der hatte ohnehin nur noch gestört. Die Chefin, diese famose Frau, hatte es nicht verdient, sich mit so einem Saufbock herum schlagen zu müssen.

„Chefin“, sagte Angelo, „machen Sie sich keinen Kopf. Wir kriegen das alles hin.“

So haben die Bruscas das Familienoberhaupt in angemessener Feierlichkeit und im angebrachten Pomp in Oberursel begraben. Man hat eine große Feier in der Villa gehabt, die die Schaustellerei der Familie eingebracht hat. Als die Trauergäste aus dem Haus waren, haben sich die Bruscas zusammengesetzt und waren sich einig, dass sich nichts ändern würde.

Als der Canstatter Wasen zu Ende ging, saß Cristina Brusca, ganz in Schwarz, an der Kasse und machte die Ansage.

Dann Corona. Die Geschäfte der Bruscas wurden in einer Halle bei Rödelheim eingemottet, die Familie wartete auf bessere Zeiten. Man verlor viel Geld, man wurde ungeduldig.

Familienrat.

Cristina wollte nicht mehr. Es sei genug Geld auf der Bank, die Kinder könnten sich ein anständiges Unternehmen aufbauen, etwas Seriöses, es waren smarte geschäftstüchtige junge Leute. Die Kinder aber wollten Nichts Neues aufbauen. Sie wollten die Tradition wahren.

Nun gut. So blieb der Brusca-Clan in der Branche. Schnapsbuden und Weinstände, Schießstände und eine Achterbahn, ein Teufelsrad.

Und auf der Wiesn aktuell der „Breakdance“. Cristina Brusca sitzt an der Kasse und macht mit rauer Stimme die Ansage. Was sie nicht alles schon gesehen hat!

Angelo bringt einen Kaffee und stellt ihn neben das Mikro. Seine Hand streicht schnell über Cristinas Unterarm, sie lächelt Angelo an, sie mag diese heimlichen Berührungen, alles könnte so schön sein.

Ist es aber nicht. Cristina Brusco sieht Angelo mit einem ängstlichen Lächeln hinterher. Er bewegt sich geschmeidig zwischen den Kanzeln, in die sich die Gäste quetschen und von ihm arretieren lassen. Cristina berührt mit den Lippen ein paarmal beim Schreien – manchmal ist es ein Knurren, ein Fauchen, manchmal gibt die Stimme nur noch ein Krächzen her. Cristina raucht und trinkt zuviel, sie verausgabt sich zu sehr am Mikro, in ihrem Hals schmirgelt und kratzt es, sie sollte sich eine Auszeit nehmen.

Habt Ihr noch Böcke hier?

Angelo ist ein lässiger Mann, der ihr gut tut. Sex on legs denkt sie, während sie ihn beobachtet.

Seid Ihr gut drauf hier? Jetzt geht’s ab hier, jetzt geht’s los! Geh, geh, geh! Gehgehgehgehgeh! Gegegegege!

Die nächste Fahrt beginnt, tückisch setzt sich die silberne Platte in Schwung.

Alle Maschinen auf Schub. Attaacke! Auf die Plätze, fertich, festhalten!

Die ersten Runden tänzelt Angelo noch zwischen den Kanzeln, dann verlässt er die Scheibe mit einem federnden Sprung.

Wir sind noch nicht am Ende. Let’s do it! Hasta la vista, baby! Noch eine Runde? Wollt Ihr noch ‘ne Runde?

Sie wollen natürlich noch eine Runde. Sie wollen immer noch eine Runde. Cristina sieht, wie er sich bereit macht. Die Fahrt ist gleich zu Ende – und er ist bereit für die nächste. Er ist immer bereit. Gut, dass es ihn gibt. Sonst wüsste sie nicht mehr, wo ihr der Kopf steht.