STATUS QUO
scheisszeitenwende 6
Der Mai ist in seinen jungen Tagen. Grauer Frühling, aber es lässt sich auf der Terrasse aushalten. Axel Kerr liest Reden des Ukrainers Wlodomyr Selenskyi. Der hat heute – wir schreiben den 8. Mai, wir “feiern” den 77. Jahrestag zur bedingungslosen Kapitulation der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg – eine dramatische Ansprache an sein Volk und an die Welt gehalten. Er ist ja ohnehin ein großer Theatraliker, der Präsident in Kriegszeiten. Er kann die Wörter flüstern, sagen, spucken, belfern, knurren, grummeln, abschießen, setzen, streicheln, schnurren, kotzen. Ein kleiner Mann ist er – aber wenn er eine Rede zelebriert, wirkt er wie ein Riese. Er hat die Bühne für sich.
Jetzt hat Selensky wieder eine große Rede gehalten. Eine Rede voller Leben und Überleben.
“Das Böse ist zurück. In der Ukraine haben die Russen eine blutige Neuauflage des Nazismus organisiert.
Mit 250 Kilogramm schweren Sprengbomben hat die Supermacht Russland die kleine Stadt Borodjanka beschossen. Sehen Sie sich nur dieses Haus an. Hier gab es einmal Wände. An ihnen hingen einst Fotos. Und auf den Fotos waren diejenigen zu sehen, die einst durch die Hölle des Zweiten Weltkrieges gegangen sind.
Diejenigen, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden, als die Nazis hier mehr als 100 Häuser niederbrannten. 250 Soldaten, die an den Fronten des Zweiten Weltkriegs gefallen sind, und insgesamt fast 1.000 Einwohner von Borodjanka, die gekämpft und den Nationalsozialismus besiegt haben. Um sicherzustellen: nie wieder. Sie kämpften für die Zukunft der Kinder, für das Leben, das bis zum 24. Februar hier war.
Stellen Sie sich vor, in jeder dieser Wohnungen gehen Menschen zu Bett. Sie wünschen sich gegenseitig eine gute Nacht. Machen das Licht aus. Umarmen ihre Liebsten. Sie schließen die Augen. Sie träumen von etwas. Es herrscht absolute Stille. Sie schlafen alle ein, ohne zu wissen, dass nicht alle aufwachen werden. Sie schlafen tief und fest. Sie träumen von etwas Angenehmem. Aber in ein paar Stunden werden sie von Raketenexplosionen geweckt. Oder sie werden nie wieder aufwachen. Nie wieder.
Die Welt hat gesehen, was in Butscha, Irpin, Borodjanka, Wolnowacha und Trostyanez geschehen ist. Sie sieht die Besetzung von Cherson, Melitopol, Berdjansk und anderen Städten, in denen die Menschen nicht aufgeben. Hunderttausende in der Welt ihnen gehen zu friedlichen Kundgebungen, die außerhalb der Macht der Besatzer liegen – und alles, was die russischen Soldaten tun können, ist auf Zivilisten zu schießen.
Explosionen, Schüsse, Schützengräben, Verwundungen, Hungersnot, Bombardierungen, Blockaden, Massenexekutionen, Strafaktionen, Besetzungen, Konzentrationslager, Gaskammern, gelbe Sterne, Ghettos, das Massaker in Babyn Jar, Chatyn in Belarus, Gefangenschaft, Zwangsarbeit – all die Menschen starben, damit jeder von uns weiß, was diese Worte bedeuten, aus Büchern, nicht aus eigenem Erleben. Aber es ist anders gekommen. Das ist ihnen allen gegenüber ungerecht. Aber die Wahrheit wird siegen. Und wir werden alles überwinden!
Und der Beweis dafür heißt ‘Werwolf’. Dies ist Hitlers ehemaliges Hauptquartier und Bunker in der Nähe von Winnyzja. Und alles, was davon übrig ist, sind ein paar Steine. Ruinen. Die Ruinen eines Menschen, der sich für groß und unbesiegbar hielt. Dies ist ein Leitfaden für uns alle und für künftige Generationen. Wofür unsere Vorfahren gekämpft haben. Und bewiesen, dass sich kein Böses der Verantwortung entziehen kann. In dem Bunker wird man sich nicht verstecken können. Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Wir werden alles überwinden. Und es wird wieder Frieden geben. Endlich wieder!”
Es ist kühl geworden auf der Terrasse. Kerr fröstelt, er hat Gänsehaut. Naja, vielleicht auch wegen Selenskys Rede. Er geht ins Haus, schließt die Gartentür, schaltet das Fernsehen an. Da redet schon wieder einer. Unscheinbar. Dünne Lippen. Augen wie eine Echse. Jämmerliche, jammernde Stimme.
Olaf Scholz ist ein beschissener Rhetoriker. Er misshandelt Wörter und Sätze, er quetscht und quengelt, er nuschelt und näselt, er ängstelt und verschluckt sich an dem, was er sagen will. Wenn Scholz redet, stirbt die Sprache.
Einer hat den Olaf Scholz mal als “Schlumpf” bezeichnet. Womit? Mit Recht.
Der deutsche Kanzler also hat das Wort:
“Das Schweigen der Waffen am 8. Mai 1945 glich einer Friedhofsruhe – über den Gräbern von mehr als 60 Millionen Frauen, Männern und Kindern. Millionen von ihnen sind auf den Schlachtfeldern gefallen. Millionen sind in ihren Städten und Dörfern, in Konzentrations- oder Vernichtungslagern ermordet worden. Deutsche haben dieses Menschheitsverbrechen verübt.
Umso schmerzhafter ist es mitzuerleben, wie heute, 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erneut rohe Gewalt das Recht bricht, mitten in Europa. Wie Russlands Armee in der Ukraine Männer, Frauen und Kinder umbringt, Städte in Schutt und Asche legt, ja selbst Flüchtende angreift. Für mich ist dies ein 8. Mai wie kein anderer. Deshalb wende ich mich heute an Sie.
Aus der katastrophalen Geschichte unseres Landes zwischen 1933 und 1945 haben wir eine zentrale Lehre gezogen. Sie lautet: ‘Nie wieder!’ Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft. Und doch ist es wieder passiert – Krieg in Europa.
Wir helfen, damit die Gewalt ein Ende finden kann. Daher haben wir in den vergangenen Tagen und Wochen weitreichende und schwierige Entscheidungen getroffen – zügig und entschlossen, durchdacht und abgewogen.
Ich kann heute noch nicht sagen, wann und auf welche Weise Russlands der grausame Krieg gegen die Ukraine enden wird. Klar ist aber: Einen russischen Diktatfrieden soll es nicht geben. Den werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht akzeptieren – und wir auch nicht.
Selten standen wir mit unseren Freunden und Partnern so geschlossen und geeint da wie heute. Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen. Freiheit und Sicherheit werden siegen – so wie Freiheit und Sicherheit vor 77 Jahren über Unfreiheit, Gewalt und Diktatur triumphiert haben. Dazu nach Kräften beizutragen, das bedeutet heute ‘Nie wieder’! Darin liegt das Vermächtnis des 8. Mai.”
Fertig. Kerr schaltet aus. Er sitzt im dunklen Wohnzimmer und weiß nicht, was er denken soll. Aber eines weiß er: Das ist nicht der Tag der Kapitulation. So schnell wird er nicht aufgeben.
© Barbara Ellen Volkmer