ABSTURZ

scheisszeitenwende 5

Der April geht zu Neige.

In London steigt Boris Becker, 54, aus einem Taxi, er wird begleitet von seiner jungen Freundin, die Zwei nehmen sich an den Händen. Seit einem Jahr leben sie Erster Klasse zusammen. Sie sind gut herum gekommen in der teuren Welt, man hat Rote Teppiche für sie ausgerollt, Champagner kalt gestellt. Wo sie waren, war Party.

An diesem späten Freitagvormittag balgen sich die Fotografen wieder um Bilder von der Frau und von Boris Becker. Das Paar geht auf die Meute vor einem Londoner Gericht zu; Boris Becker hat Schmerzen in den Knien und im Rücken, er humpelt ein wenig, ein müder Mann mit traurigen Augen und einem von Alkohol, Tabletten und Angst ramponierten Gesicht ist er, bemüht um den aufrechten Gang.

Seine Begleiterin war wohl schon einmal beim Schönheitschirurgen, der ihr die Lippen gemacht hat; sie ist für den Gerichtsauftritt sorgfältig hergerichtet. Riesige schwarze Sonnenbrille, ein cremeweißer Business-Look für reiche Anwältinnen, eine Handtasche für 20000 Pfund. Sie verachtet den Augenblick und die Presse-Untermenschen, die sich zusammen gerottet haben.

Boris Becker und die hochgemute Frau biegen vom Bürgersteig nach links ab und nehmen die drei geklinkerten Stufen zum Court Yard. Sie verschwinden im Gebäude. Der Maßanzug des Mannes ist zerknittert, er hat einen krummen Rücken, der wohl nie wieder gerade werden wird. Ihre schwarzen Stilettos klackern, einszweidrei, die Treppe hoch. Die zwei Menschen verschwinden, es ist halb eins, schwere Wolken schieben sich über London, aber die Meteorologen haben für den Mai Frühjahrs-Erwachen angekündigt. Bald werden die Menschen vor den Straßencafés sitzen, sie werden in ihren Cabrios durch die City fahren und sich den warmen Wind durchs Haar wirbeln lassen, bald werden sie beim Tennisturnier von Wimbledon sündteure Erdbeeren essen und Champagner süffeln, sie werden den Frühling und den Sommer genießen und Corona und Kriege vergessen. Das Leben kann doch schön sein, nicht wahr?

Kurz vor sechs Uhr abends verlässt an diesem Abend die elegante Frau das Gerichtsgebäude ohne Boris Becker. Der wartet auf einen vergitterten Bus, der ihn ins Gefängnis bringt. Zweieinhalb Jahre muss Boris Becker in den Knast. „Insolvenzverschleppung“ heißt das Vergehen – und die Richterin meinte, dass Becker so ein schlimmer Mensch sei, dass es für ihn keine Bewährungsstrafe geben dürfe.

Also, ab ins Gefängnis.

Er ist der beste Tennisspieler der Welt gewesen. Zum „Helden“ ist er mit seinen Siegen und Niederlagen geworden. Er war ein Unverletzbarer. Das Wort „Nein“ galt für ihn nicht. Boris Becker gewöhnte sich daran, der König der Welt zu sein.

Nach dem Tennis machte er als Held weiter. Warf sein Geld unter die Leute. Verführte und ließ sich verführen. Richtete den Körper zugrunde, den er schon als Tennisspieler geschunden hatte. Alles war ein großes gefährliches Spiel – und Boris Becker machte sich selbst zum Einsatz. Er war überzeugt, dass er am Ende doch wieder der Held sein würde.

Ein Nein akzeptierte er nicht. Er kannte doch aus den frühen Zeiten das Stück, in dem er die Hauptrolle spielt:

Auch wenn er mit dem Rücken zur Wand steht, auch wenn er schon gestrauchelt ist – am Ende rappelt sich Boris Becker hoch, gewinnt mit blutenden Knien den Kampf und steht als der Triumphator vor den jubelnden Massen.

Nun erlebt er seine ganz persönliche Zeitenwende.

Axel Kerr sitzt im „Nostalgie“, als der RTL-Reporter live aus London berichtet, dass „für den Boris in diesem Augenblick die Handschellen klicken.“ Kerr hat Magenschmerzen. Was für ein schlimmer Tag. Weg gesperrt! Der Boris! Darf so etwas sein?

Einer im „Nostalgie“ sagt: „Dit hat er nich vadient. Wat jetz für den kommt, kann er nich ab. Jetz wird der Boris plötzlich inne Realität jeschmissen. Da kann einer dran varrecken.“

Im Fernsehen sagt eine Moderatorin mit dicken Lippen, dass „es ein Schock ist. Boris muss ins Gefängnis“.

Jetzt muss er in den Knast. Den Anzug ausziehen. Den teuren Binder in Wimbledon-Design ablegen. Sich in den Arsch gucken lassen. Die Kluft anlegen – Boris ist sehr groß und hat eine Wampe, er braucht weite Sachen.

Scheisse sieht er aus nach der Prozedur, einfach scheisse. Er schlurft hinter einem Beamten her, und da sind die Knast-Geräusche.

Menschen, die laut atmen.

Menschen, die da sind.

Das Gebäude, das rumpelt und stöhnt, es ist kalt und faucht.

Schlüssel, die am Bund des Beamten klirren.

Das Ende des Gehens das Aufsperren einer Tür.

Dann hört er keine Geräusche mehr, dann tut er einen Schritt in die Zelle.

Er ist durchschrocken in diesem Moment.

Und nachdem er den Schritt in die Zelle gemacht hat, wird es echt schlimm.

Axel wacht schreckt aus seinen Phantasien über Boris Becker hoch. Am Tresen reden sie nicht mehr über den Tennisspieler von einst, am Tresen reden sie über einen aus dem Kiez, der gestorben ist.

Axel blickt auf seinen Hund, der unterm Tisch döst.

„Sputnik – wir müssen.“ Der Hund streckt sich und ist bereit.

Auf der Straße ist es noch hell. Sie werden einen langen Spaziergang zum Hotel machen. Dann bekommt der Hund Fressen, Kerr hat noch kalte Pizza. Er wird den Fernseher einschalten und Zeitung lesen.

Morgen Vormittag besuchen sie den Rolf, dann geht es zurück nach Bayern.

Axel Kerr ist ganz froh. Berlin – da hat er sich mal so wohl gefühlt – ist nicht mehr seins. Nirgendwo ist mehr seines. Dann ist es besser, er fährt zurück aufs Land, dort fühlt sich wenigstens der Hund zuhause.