NO FUTURE

Berlin, 3. November 2016   Der Zug hat Gerd Schönfelder einen Arm abgerissen. Das Leben ist aus den Fugen. Wie soll ein Mensch sich da wieder berappeln? Auszüge aus „Sieger“ (erschienen bei „Die Werkstatt“), Folge II.

 

 

Es gibt Menschen, die an der Reha verzweifeln. Es ist so zermürbend. Die Fortschritte winzig. Die Übungen tun weh. Es schmerzen die Erinnerungen an das, was verloren gegangen ist.

Diese Erschöpfung, die Monotonie, das Elend der anderen. Rückschläge, Zweifel, Entmutigung. Gerade in einer Phase, in der man sich selbst nicht mehr kennt, weil man eben nichts mehr vom Gekannten und Gekonnten hat, soll man stark sein. Was für eine Zumutung!

Sonntagabend muss er immer in München zur Reha einrücken. Gerd verabschiedet sich von der Mutter und dem Bruder. Den nimmt das alles – so hat es den Anschein – am meisten mit. 14 ist er, und wenn Gerd seine Tasche in den Kofferraum schmeißt, kann der kleine Bruder nicht mehr an sich halten. Er weint lange und herzzerreißend.

Einer ist immer da, der den Gerd nach München chauffiert. Mal übernimmt der Vater den Fahrdienst, mal der Onkel, oder ein Freund springt ein. Einmal sind sie zu fünft im Wagen. Der Vater lässt es durch den Sonntagsverkehr in Schwabing rollen. An einer Ampel hält er. Nebenan bleibt ein Porsche Cabrio stehen. Am Steuer sitzt ein junger Schnösel, kaum älter als Gerd Schönfelder.

 

„Du fühlst dich so … versehrt. Unversehrt – versehrt! Vor dem Unfall habe ich über diese Wörter nicht nachgedacht. Du hast einen Makel. Der Arm ist ab, die Hand schaut ganz ungewöhnlich aus. Du bist so verletzt – und auch im Kopf … Vorher habe ich mich darüber aufgeregt, dass meine Nase ein bisschen krumm ist. Vor dem Unfall habe ich sie mir dreimal gebrochen – beim Skifahren, beim Fußball, beim Schwimmen –, na ja, dann ist sie nicht mehr fabrikneu gewesen. Das hat mich wahnsinnig gestört. Hab Angst gehabt, dass ich wegen der Nase keine Freundin bekomme. Ein bissl eitel ist doch jeder, verstehst? Und auf einmal so was! Mei, bin ich ein Rindviech gewesen. Die Nase ist so was von wurscht. Jetzt bist du ein Totalschaden – die Nase reißt’s jetzt auch nicht mehr raus. Und dann sagt diese Frau – ich mag die ja gerne, dass wir uns da nicht falsch verstehen –, aber da sagt die, ich soll ›normal‹ mit dem Schaden umgehen. Ja, das ist doch nicht möglich. Das verarbeitet doch kein Mensch von heute auf morgen, das musst du erst einmal begreifen, damit muss man doch leben lernen.“

 

Nach dem Schock nimmt Gerd Schönfelder bewusst Schicksale und Menschen wahr, die ihm früher nicht geheuer waren. Er kann nachts nicht schlafen. Die Klinik in Bogenhausen ist still und unbelebt. Schönfelder tapert auf den Gang – es hilft ja nicht, wenn er sich von der einen Seite auf die andere wälzt und die düsteren Gedanken von ihm Besitz nehmen. Also geht er lieber auf dem leeren Gang auf und ab.

Ein Mensch biegt ums Eck. Schönfelder erlebt, was er bislang nur aus Horrorvideos kennt: Der Mann hat kein Gesicht. Alles zerstört. Wulstige Narben. Augen in Hautkratern. Der Patient hat seinen Unfall schon als Kind gehabt. Hat auf dem Schrottplatz des Vaters gespielt. Ein Auto fing Feuer, der Bub entkam nicht mehr. Alles, alles wurde verbrannt, versengt, verätzt. Ohren weg, Haare weg, Nase weg. »Ein Monster.«

Das Ungeheuer bewegt sich auf Gerd Schönfelder zu. Der ist ohnehin nicht besonders belastbar und fürchtet sich sehr. Sie gehen aneinander vorbei. Auf einmal kommt von dem anderen ein tiefer hohler Laut, es ist eher ein Brummen: »Servus.« Das ist nicht die Stimme von einem fremden Planeten. Gerd bleibt stehen. Sie unterhalten sich. Zuerst kann Schönfelder dem entstellten jungen Mann nicht ins Gesicht sehen.

Sie tauschen ihre Geschichten aus – und das Gespräch wird intensiv. Aus der Scheu wird eine Art Bewunderung. Wahnsinn, dieser Mensch kann nichts verbergen. Er trägt in jeder Minute ein versehrtes Gesicht zur Schau – aber er redet vernünftig, und er klingt zuversichtlich. Wie macht er so etwas? Wie stark muss dieser Mensch sein? Gerd Schönfelder geht wieder zu Bett und denkt bei sich, dass es ihn – in allem Unglück – doch noch ganz gnädig erwischt hat. Am nächsten Tag bekommt der neue Bekannte Besuch. Hübsche Frau. Kleines lebhaftes Kind. Die lachen, gehen liebevoll miteinander um, haben Freude.

 

»Es geht. Auch wenn du nicht der Typ Mann bist, dem alles zufliegt. Ein James Bond wirst du nicht mehr. Aber warum auch? Ich sage mal, es gibt einen ›natürlichen Filter‹. Da sind die Frauen, die auf den Typ James Bond fliegen. Denen sind die Äußerlichkeiten wichtig. Aber, mal ehrlich: Dieser Typ Frau hat mich auch vor dem Unfall nicht interessiert.«

 

Es sind seltsame Monate. Draußen geht ein Herbst ins Land, und die Menschen reden von Wiedervereinigung und davon, dass die Welt gerade durchgemischt wird. Gerd Schönfelder entdeckt seinerseits, dass seine kleine Welt von früher nicht mehr existiert. Er muss nicht nur lernen, den Verlust eines Arms zu begreifen und damit klarzukommen. Er muss auch erleben, dass das, was er bisher übers Leben dachte, nicht mehr viel wert ist.

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Es ist ein langer Weg gewesen. Von dem Menschen – der nichtsahnend als Bub seine Hand verewigen ließ – bis zu dem Mann, der bei den Paralympics 16-mal Gold gewonnen und nun ein Buch über sein Leben und das Wieder-Aufstehen veröffentlicht hat. Fotos: Barbara Volkmer

Gerd Schönfelder – einer, der schon immer gern gelacht hat – entdeckt, wie hilfreich schwarzer Humor sein kann. Im Lift in Bogenhausen steigt einer zu. Ohr abgesengt, das halbe Gesicht verbrannt. Schwere Verletzungen an einer Hand. Alle Finger beschädigt, zum Teil ist nur noch ein Stummel übrig. »Unfall«, sagt der Patient kurz und bündig. Schweigend betrachtet Schönfelder das Körperschlachtfeld. Der Mann sieht es und fragt, was er denn genau habe. Gerd streckt seine Linke vor. Restdaumen, künstlicher kleiner Finger, sonst nix.

»Au, Scheiße«, bricht es aus dem anderen heraus. »Scheiße, scheiße! Da hab ich ja noch richtig Glück gehabt.«

Morgen: Der Körper-Schnitzer