NICHT SCHON WIEDER

TANZ DER VIREN II, Folge 99

Frau Angerer fühlt sich schon wieder mal übervorteilt. Und das kommt so:

Es gab den Augenblick, als Frau Angerer nichts mehr blieb. Mann tot. Freunde tot. Freundinnen nicht da, weil es nicht erlaubt war.

Leben weg.

Man sagte ihr, sie solle sich impfen lassen gegen die Große Krankheit. Aber man hat sie dann doch nicht – Woche für Woche nicht – nicht vakziniert. Man hat sie auch noch um dieses klitzekleine Überleben beschissen.

Da hat sie beschlossen:

Nein.

Sie hat sich nicht impfen lassen. Zum ersten Mal hat Frau Angerer richtig aufbegehrt.

IHR

IMPFT

MICH

NICHT!

Danach ist sie an verbotene Orte gegangen und hat sich gefreut über ihre Verwegenheit.

Die Königsschlösser. Neuschwanstein, spitze Türme. Herrenchiemsee, drinnen ein nicht begehbarer Spiegelsaal. Linderhof, der Traum vom Märchen.

Das Münter-Haus in Murnau. Blau die Pferde, rund das Heu und das Gebirg‘, sie war nicht vor den Bildern, aber sie war nah dran.

Der Opernplatz. Da hat sie sich an einem sonnigen Tag auf eine Steinbank gesetzt und von Papageno geträumt. Das wäre ihr Traum-Mensch gewesen.

Eis to go. Zugfahrt mit Maske auf Senioren-Ticket. Kaffee to go. Ausflug an einen See, an ein Gebirge, in ein Land.

So hat es Frau Angerer trotzig gemacht.

Sie wurde froher und froher. Weil die Anderen in ihrer Angst starrten und sie einen kleinen Schritt nach dem anderen tat.

Sie dachte, sie täte es gut.

Aber jetzt wird sie überholt. Das Volk fliegt in den Urlaub, ohne sie. Das Volk tut so, als sei nichts gewesen

Alles ohne sie.

Frau Angerer denkt, jetzt ist sie schon wieder beschissen worden.

Die Anderen werden sich die Impfung holen und ihr alles wieder  weg nehmen.

Linderhof, Chiemsee, Neuschwanstein, Murnau und den Blauen Reiter, die Oper…

Alles werden sie ihr weg nehmen. Alles. Und dann?

© BILDKUNST JOHANNES TAUBERT