FAMILIE

„2017”*, Folge 99, 25. Dezember. “Berliner Woche”/II

 

Elly wacht verkatert auf, kommt aber schnell auf die Beine, als Hans Krohn ihr ein Frühstück ans Bett bringt.

„Du?“, fragt sie.

Er weiß, worum es geht. Nein, erklärt er, es sei nichts passiert. Obwohl…

„Ich hab ganz schön einen gebechert, gestern. Voll der Filmriss. Naja, wenn nix war. Aber schön haben wir’s gehabt.“

Wohl wahr, sagt Krohn.

Dann wolle man es sich gemütlich machen, meint Elly, die jetzt sehr schöne Augen hat. Vielleicht ein bisschen spazieren gehen. Vielleicht ums Eck in die Kneipe. Oder auch was Anderes.

Was Anderes, meint Krohn, sei ihm lieber. Mit dem Trinken habe er es momentan nicht so.

Naja, dann was Anderes. Aber zuerst müsse sie noch auf den Anruf der Tochter warten. Die sei mit der Familie in Polen.

„Kommst Du mit ihr klar?“

Alles bestens. Die macht ihr Ding. ‘ne nette Familie. Die kommen erst am 30. zurück. Dann besuche ich sie zu Silvester, ist jedes Jahr das Gleiche, immer jut.

Ob sie ihm von ihrer Tochter erzählen wolle, fragt Hans Krohn.

Gern. Am besten fängt sie da mit Neujahr an.

 

Gefeiert wird trotz allem. Silvester in Marienfelde lässt’s die family krachen, ein kleines bisschen jedenfalls. Reni und Mike umarmen sich. Neujahr, das hat immer etwas Tröstliches, auch wenn die Lage trostlos scheint. Man rauft sich zusammen, hat einen Anlass zu trügerischer Sorgenfreiheit. „Allet Jute für’t Neue“ rufen die Nachbarn vom Balkon und winken mit Sektflaschen.

Und Elly übernachtet auf der Wohnzimmercouch, weil alle so blau sind.

Am Morgen danach ist Marienfelde übersät von abgefackeltem Discounter-Feuerwerk und Bruchglas. Das Feiern ist vorbei. Jetzt schauen Reni und Mike nach vorne. Was wird es ihnen bringen, dieses neue Jahr, in das sie – zum wievielten Mal eigentlich? – als Hartz-IV-Familie hinein gefeiert haben? „Bammel haben wir schon“, sagt Mike.

Das sagt er jedes Jahr.

Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache: „Ich bin überzeugt: Wenn sich auch im kommenden Jahr jeder für etwas einsetzt, das für ihn in diesem Land besonders liebens- oder lebenswert ist, dann wird es uns allen noch besser gehen.“

Das sagt sie jedes Jahr.

 

Und dann geht bei den Kindern eben das nächste Jahr ins Land.

Ende Januar hat Reni Geburtstag. Von ihrem Mann bekommt sie ein Smartphone, für das die Familie zusammengelegt hat. Oder Bling-Bling-Klamotten, für die sie einen Tick zu erwachsen ist. Oder ein Wellness-Wochenende in einem teuren Schuppen. Alle wissen, dass sie es sich nicht leisten können, aber Reni freut sich tierisch und erklärt: „Es kann nur besser werden.“

Alle zwei Wochen wird Elly ihre Tochter besuchen. Reni sitzt dann im Wohnzimmer und spielt mit dem Baby, das allein auf die Welt kommen musste, ohne seinen Zwilling, weil der schon im Bauch der Mama gestorben ist.

Die Geburt war qualvoll. Reni erzählt oft davon. Als ob das Reden den Schmerz nähme. Wenn sie über die schlimme Geburt spricht, müht sie sich ums Hochdeutsche.

„Drei Tage, nachdem ich fällig gewesen wäre, wurden die Ärzte nervös und leiteten die Wehen ein. Mike zog sich noch den Kittel an, aber als er zurückkam, war ich schon im OP. Als ich aufwachte, stand er mit Mama weinend am Bett. War nur ein Baby da – und so winzig.“

Dass sie bei der Geburt wegen des hohen Blutverlusts fast selbst gestorben wäre, erwähnt Reni nicht. Wer will das schon wissen?

Opas Todestag jährt sich im Juni. Der Schmerz trifft Reni genau so überwältigend wie in jedem Jahr. Ihre Mutter ist genauso heillos durch den Wind wie alle Jahre. Da kann auch Mike nur noch helfen, indem er sich mit den Kindern beschäftigt. „Dit wird schon“, murmelt er. Reni vergräbt sich in Erinnerungen. Der Opa war ein wilder Hund im Wedding. Erfolgreicher Boxer mit gutem Punch. Einer, der sich durchs Leben gekämpft hat. Manchmal nicht ganz sauber, aber das konnte man ihm nicht übelnehmen.

Mit Tochter Reni wurde Max erst richtig herzlich, als sie schon eine junge Frau war. Dann aber waren sie unzertrennlich.

Verdammter Krebs! Im Hals hatte es der Opa.

Diese Quälerei, die nicht zu enden schien. Der Tod als Erlösung. Dieses Gefühl, der Boden unter den Füßen sei weg.

Jetzt ist die Trauer wieder da. Dazu das Kümmern um die Familie, die Geldsorgen, die Angst vor der Zukunft.

Ende Juni hat Mike Geburtstag, 48 wird er. Reni schenkt ihm eine Hollywoodschaukel, Sonderangebot vom Bauhaus. Oder eine Sause mit den Kumpels. Oder was fürs Auto. So richtig fröhlich ist Mike an diesem Tag nicht.

Dabei war er mal ein „Max inne Sonne“.

Aber seit sie ihm die Arbeit genommen haben, ist auch sein Froh-Sein weg.

Am Anfang hat er für die Bewerbungen noch teure Mappen gekauft. Aber er bekam nur ganz selten Antworten, und wenn, dann Absagen. Jetzt bewirbt er sich per E-Mail.

Verkäufer für weiße Ware hat er gelernt. Er kennt sich aus mit den Besonderheiten von Waschmaschinen und Geschirrspülern, hat in renommierten Fachmärkten gute Provisionen bekommen. Bis man ihn nicht mehr brauchte.

Hat sich als Kneipier in Steglitz versucht. „Fitzefatze“ hieß die winzige Pinte. Lief anfangs gut, aber er konnte nicht so recht umgehen „mit den vielen Psychopathen, die da abhingen“.

Noch einmal eine Stelle als Verkäufer. Wieder gekündigt.

Und jetzt? Nichts mehr. Er hält sich wacker, kümmert sich um die Kinder, führt den Hund aus – aber er ist blass, wiegt zu viel, und Sport geht nicht mehr, wegen der Knie.

Die Sorgen, die lassen sich nicht weglachen. 1365 Euro Hartz IV. Die 80-Quadratmeter-Wohnung in Marienfelde kostet 650 Euro. Haushaltsbudget? „Ach was, wir müssen generell jeden Monat irgendwas schieben. Haushaltsplan machen wir nicht mehr.“

Von einem Tag auf den anderen ein Mensch zweiter Klasse.

Vor kurzem waren sie im Zoo. Als er da wegen der Ermäßigung seinen Hartz-IV-Ausweis an der Kasse vorlegen hätte können, hat er es nicht getan. Lieber zahlte er voll.

Bis tief in den September geht Elly bei den Kindern zum Grillen. Bestes Spätsommerwetter in Marienfelde. Man isst Kuchen. Die Enkelin führt ihren Spielplatz vor. Plötzlich ist das Kind weg. Hat sich unter dem Maschendraht durchgeschoben. Mike wird nervös, redet durch den Zaun auf die Tochter ein: „Schatz, komm zurück, da ist doch gleich die Straße, jetzt komm doch zurück.“ Es dauert fünf lange Minuten, bis das Kind sich überreden lässt. Auf der richtigen Seite des Zauns wird sie von Zicke begrüßt, dem Familienhund, der so langmütig ist wie sein Herrchen. Max ist auch da, der einjährige Kater.

Das Baby sitzt mit Hertha-Schal im Gras. Ein bisschen unpassend, findet Mike. Wo doch die gute alte Hertha nur noch verliert.

Es ist halb vier Uhr nachmittags. Die Nachbarn packen jetzt den Alkohol aus. Zeit zum Vergessen.

Elly fühlt sich wie damals in der DDR.

Mal wird Mike nach Hohenschönhausen fahren. Oder nach Marzahn oder Lichtenberg oder in den Wedding. Ein Jobangebot. Sechs Tage die Woche, Stundenlohn knapp über drei Euro, macht netto rund 800 Euro im Monat. Wo die Dauerkarte für die S-Bahn schon über 100 Euro kostet. Ein Witz.

Dann wieder muss er ins Jobcenter. Ein Mann mit müdem Gesicht zwischen lauter entmutigten, wütenden Menschen.

„Würde mich nicht wundern, wenn hier mal einer mit ’ner Bombe rein marschieren würde.“ Mehr sagt Klaus nicht. Aber mit seiner äußeren Ruhe wirkt er zwischen all den Aufgebrachten fast ein bisschen unheimlich.

November. Das Baby krabbelt zum ersten Mal. Wie schön! Reni sagt: „Es ist die Familie, es sind die Kinder, das baut uns immer wieder auf. Sonst hilft doch keiner.“

 

Und zu Weihnachten werden sie es wieder nach Polen schaffen. Ostsee, Natur, die Kinder bekommen Farbe. Bier und Braten sind billig, die anderen Hotelgäste sind nett – die Armen aus Deutschland machen es sich schön.

Und werden am ersten Feiertag die Oma in Berlin anrufen und mit ihr eine Runde heulen.

 

Ja, so is dit mit Familie”, sagt Elly und übt das Heulen schon mal.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.