EWIGES ABENTEUER

scheisszeitenwende 18    Deutschlandfunk, im Dezember 2023. Ein freundlicher Herr erzählt in piekfeinem Deutsch Anekdoten aus seinem Musikerleben und legt seine Lieblingsstücke auf. Er ist unaufgeregt, geistreich, witzig, wissend – und herzlich.

Das ist doch:

Ja klar. Das ist Menachem Pressler.

Der ist doch:

Ja. Die FAZ schrieb damals: „Glück hat in seinem Leben eine große Rolle gespielt. Deshalb fand er die Welt so schön. ,Ich muss ehrlich gestehen: Ich danke Gott für jeden Tag.‘ Im Alter von 99 Jahren ist Menahem Pressler am 6. Mai in London gestorben“

Jetzt redet er im Deutschlandfunk. Und die Zuhörer spüren etwas von seinem Glück.

Als ob er noch am Leben wäre.

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Erinnerung an ein Treffen vor sechs Jahren. Menachem Pressler gastierte in der Hauptstadt.

Kein Sitz in der Philharmonie bleibt leer. Schubert, Beethoven, Schostakowitsch. Danach verneigen sich die Zuhörer.

Anderntags ist Pressler in seiner Suite bester Laune. Man wolle ein wenig über Schubert plaudern? Avec plaisir.

Der alte Mann im Hotel ist eine Ikone. Max Pressler kam 1923 in Magdeburg als Sohn eines jüdischen Herrenausstatters zur Welt. Unter den Nazis musste er das Gymnasium verlassen. 1938 floh die Familie, 1940 landeten die Presslers in den USA.

Der fünfzehn Jahre alte Max, Zeuge der Vorgänge vom 9. November, litt im Exil unter Essstörungen und wäre fast verhungert – wenn er nicht einen Weg zur Selbstheilung gefunden hätte: Klavier spielen, Beethoven, Brahms, Schumann, Mozart, Bach, jeden Tag. Bis er ohnmächtig wurde: „Es war bei Beethoven. Ich glaube, die späte As-Dur-Sonate op. 110, vielleicht auch die letzte Sonate op. 111, so ganz genau erinnere ich mich nicht mehr. Ich war sechzehn, und mein Lehrer war völlig erschrocken: ‚Was ist denn los?‘ Ja, nichts war los. Mich hatten die tiefsten Gefühle ergriffen, die ein Mensch in sich finden kann. Es war nämlich in dem Moment nicht mehr so, dass ich gespielt und dabei ein Instrument benutzt habe, um Musik zu machen. Es war vielmehr plötzlich so, als ob ich spräche.“

Max nannte sich nun Menachem. Und wurde in einem Allegro furioso zu einem der größten Pianisten seiner Zeit.

Er winkt ab. Schluss mit den Lobhudeleien – er hat ein ganz ordentliches Leben hin bekommen.

„Eines darf man nie vergessen. Ich wäre nicht der, der ich geworden bin, ohne meine Frau. Das muss ich Ihnen schon erzählen.“

Bittesehr.

„Eine großartige Frau war sie. Hat Lateinisch gelesen und gesprochen, als ob es Englisch wäre.“

Der Maestro schmunzelt.

„Aber das Klavierspiel war ihres nicht.“

Wie bitte?

„Naja, sie sollte meine Klavierschülerin werden – ich war 20, sie war vier Jahre jünger – und sie spreizte ihren Finger ab. Sie war wunderhübsch – aber sie spreizte den Finger ab. So, wie das englische Ladys beim Teetrinken tun. Sie wurde also nicht meine Schülerin.

Später traf ich sie als junge Frau in einem Konzert. Von da an gingen wir auf die große Lebensreise.“

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„Ach, was plappere ich. Wir wollten doch über Schubert reden.“

Ja. Kann Sie da noch etwas überraschen?

„Sicherlich. Du lernst immer dazu. Vor kurzem hatte ich eine Aufnahme mit einer reizenden japanischen Geigerin unter anderem ein Schuber-Konzert in A-Dur. Ich hatte das schon so oft gespielt. Aber noch nie in dieser Intensität.

Ich habe sie nicht ansehen müssen, aber ich habe sie gesehen. Ich habe gefühlt, sie war glücklich. Es war ein großer Moment, es war ein großer entscheidender Moment.

So stelle ich mir den Augenblick der Freude vor.

Überhaupt: Schubert! Das ist einer der Schwierigsten. Franz Schubert muss sauber und schön gespielt werden. Das ist eine Sache der Technik das kann ein talentierter Musiker lernen. Doch dann geht es darum, ein Gefühl ins Spiel zu bringen. Das ist Kunst.

Ich zwinge den Schüler, mir zuzuhören. Dann gibt es den Punkt, an dem ich abbreche. Dann sage ich: Jetzt musst du allein deinen Weg finden.

Stellen Sie sich vor: Dieser Schubert hat seinen ganzen Weg völlig allein gemacht. Was für ein ewiges Abenteuer.“

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Ein paar Jahre später ein transkontinentales Telefonat. Corona wütet in der Welt. Das Klima. Die Kriege. Die Menschen haben Angst. Er auch?

„Nein. Für mich ist die Erde ein Gottesgeschenk, ich kann es nicht anders sagen. Es bereitet mir Freude, immer noch neue Sachen zu lernen und dies mit naturgemäß stets jüngeren Musikern zu tun. Was für Begegnungen und Eindrücke bekomme ich dafür immer noch in meinem Alter! Vertreibung, Auswanderung, Rückkehr, das sind Freude und Schmerzen, die präsent sind. Aber die Empfindung von Glück ist stärker. Mein liebendes Herz ist jung. Es weiß ja nicht, dass es seit über 90 Jahren schlägt!“

Foto: Barbara Volkmer