EISZEIT

SPREEMANNSGARN 3     —   In der Hauptstraße gibt es ein kleines Lokal für die Schlaflosen. Sie sitzen an diesem Februarmorgen vor ihrem Getränk und warten auf den Tag. Karneval ist vorbei, es ist ein Donnerstag und nichts los.

Der Fernseher ist an. Olympia. Eiskunstlauf.

Die Musik kommt vom Klavier und heißt „Die Erde, vom Himmel aus gesehen“. Später gesellt sich zum Klavier eine singende Frau.

Die Trinker aus der Hauptstraße hören zu stieren auf und sehen zu.

 

Aljona Savchenko und Bruno Massot laufen wie noch nie in ihrem Leben. Er wirft sie so weit, sie dreht sich so schön in der Luft, sie landet so sicher. Beide drehen sich synchron, sie vertraut sich seiner Kraft in einer atemraubenden Todesspirale an. Sie verschmelzen miteinander, lösen sich, kommen wieder zusammen. Sie sind die Ergänzung der Melodie von „Die Erde, vom Himmel aus gesehen“.

In der Halle seufzen die Menschen kollektiv, sie jubeln, sie kreischen, viele haben feuchte Augen. Die Punktrichter vergeben die allerhöchsten Noten.

Die Menschen vom Fach sind sich einig: Was Aljona und Bruno da eben gemacht haben, ist Kunst. Alle reden von einer „Kür für die Ewigkeit“.

Auf dem Eis liegt eine glückliche kleine Frau, neben ihr ein völlig erschöpfter Hüne, der sie eben noch auf einer Hand durchs Sportler-Leben getragen hat. Da waren die Beiden die perfekte Illusion von Yin und Yang.

Die Halle tobt. Noch drei Paare müsse aufs Eis. Sie haben keine Chance. Machen kleine Fehler. Geben sich neidlos geschlagen.

Danach brechen die Dämme. Auf der Tribüne flennt Katarina Witt, die selbst mal eine „Kür für die Ewigkeit“ ins Eis geritzt hat. Trainer König ist nass geschwitzt: „Von Platz vier auf eins, das ist zuviel – ich bin zum Greis gealtert.“Selbst „spiegel online“ wird enthemmt titeln: „Paarlauf-Gold für Savchenko und Massot  – im Tränenmeer des Glücks – jahrelang hat Aljona Savchenko auf Paarlauf-Gold hingearbeitet, sie hat alles dafür verändert, sich einen neuen Partner geholt – und doch schien ihr Olympiatraum vor der Kür geplatzt. Dann folgte der perfekte Lauf“.

 

Aljona Savchenko ist 34. Der Papa hat ihr zuhause im ukrainischen Obuchiw Schlittschuhe untergeschnallt, da war sie drei. Sie kurvte über den vereisten Weiher, und der Papa beschloss, dass seine Tochter die größte Eisläuferin der Welt werden solle. Er wollte sie gleich im 50 Kilometer entfernten Kiew beim Verein anmelden, doch dort wurde er beschieden, er solle in ein paar Jahren kommen, das Mädchen sei noch zu winzig. So hat er Olena Walentyniwna vorerst selbst ausgebildet. Später wurde sie im Klub gedrillt.

Die Sportlerin hat Sprung nach Sprung, Schritt für Schritt, Kringel und nochmal Kringel gelernt. Und sie bekam beigebracht, dass nicht nur Indianer keinen Schmerz kennen. Ihr wurde ein Kissen in den Trainingsanzug geschoben – und dann übte sie das Hinfallen und das Geworfen-Wwrden und das Springen so lange, bis es das Hinfallen nicht mehr gab.

„Niemals aufgeben, das ist mein Motto“, sagt sie, nachdem sie in Pyeongchang Gold gewonnen hat, in einer Tränen-Pause. „Mein Leben heißt kämpfen.“ Aljona Savchenko ist einen Augenblick lang still, dann schluchzt sie: „Ich habe an diesen Sieg geglaubt von Anfang bis zum Ende, auch gestern noch. Ich hatte niemals Zweifel, das dieser Tag kommen würde.“

Bruno Massot nickt abwesend. Sein Deutsch ist noch nicht so toll – er hat den Pass erst seit ein paar Wochen. Aljona kümmert sich ums Reden. Er hebt sie hoch, ansonsten nickt er.

Ist besser so.

 

In der Hauptstraße trinkt auch eine Frau, die früher mal eine Schönheit gewesen sein muss. Sie bestellt was Schönes, schließlich muss man Olympia feiern.

Im Fernsehen spielen sie mittlerweile Eishockey und hauen sich ein bisschen.

So richtig passt das nicht zu diesem schönen Morgen.

Die Trinkerin hebt das Glas, sie stößt mit dem Fremden an ihrer Seite an.

„Prost. Ein Hoch auf die Liebe.“