DER UNFALL

berlin, 2. november 2016. Auszug aus dem soeben bei “Die Werkstatt” erschienenen “Sieger – das Leben des Gerd Schönfelder”.

 

16 Uhr. Arbeitsende. Schönfelder packt die letzten Sachen in den Rucksack, marschiert mit dem Kollegen zum Parkplatz, sie steigen ein.

»Halt!«, sagt der Kollege. »Einen Augenblick, ich habe was vergessen.«

Steigt aus und läuft eilig zurück in die Werkstatt. Schönfelder sieht ihn zurückkommen, schaut auf die Uhr und bleibt optimistisch.

Wird schon klappen, denkt er.

Es ist acht nach vier.

Sie fahren los, rauf auf die Autobahn und rein in den Stau.

Um die Zeit ist das nichts Ungewöhnliches.

Schönfelder kontrolliert die Uhr im Minutentakt. Der Wagen bewegt sich quälend langsam vorwärts. Die Chancen, den Zug zu erreichen, sinken.

Endlich die Ausfahrt. Sie verlassen die Autobahn, ordnen sich ein, bewegen sich auf eine Ampel zu. Die steht schon lange auf Grün, sie sind fast an der Kreuzung, die Ampel schaltet von Grün auf Gelb.

Der Kollege bremst. Er ist ein vorsichtiger Fahrer.

 

 

»Ich weiß noch, dass wir die Ersten gewesen sind, die an der roten Ampel standen. Ich hätte – so bin ich immer gewesen – noch Gas gegeben, er hat halt ziemlich stark gebremst.

Wir sind da vor der roten Ampel gestanden, und ich habe gemeint: ›So, des war’s jetzt.‹

Wie lang steht so eine Ampel auf Rot? Nach meinem Gefühl ist es eine Minute gewesen, und ich dachte, das ist genau die Minute, die mir fehlt.«

 

 

Schönfelder sieht hinüber zur Eisenbahnbrücke über die A9, da macht er den Zug aus, der ihn pünktlich nach Hause bringen soll.

Im Affentempo fährt der in Richtung Hersbruck.

Sie folgen der Bahnlinie. Kommen am Bahnhof an.

Schönfelder hat die Tasche und die Jacke griffbereit. »Danke und servus!«

Er gleitet aus dem Auto, wirft die Tür hinter sich zu, rennt los.

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Wenn ein vitaler junger Mann zum Notfall wird, kann das eine Familie zerbrechen. Die Schönfelders sind durch Gerds Unfall noch enger zusammen gewachsen. Fotos: Barbara Volkmer

Er ist keiner, der so schnell aufgibt. Das Rennen um die letzte Chance hat er im Blut. Wenn die anderen schon aufgeben, macht er noch weiter. Das kennen sie im Fußballverein, das erleben die Spezln immer wieder, wenn sie mit dem Gerd zum Motorradfahren gehen. Da kommen sie an ein Wasserloch – und alle bleiben stehen und schauen sich um, wie sie das Hindernis umfahren können. Der Gerd kann das nicht. Er nimmt Anlauf und rast mit Vollgas ins Wasser. Entweder kommt er am anderen Ufer als der Sieger raus – oder er bleibt stecken und landet mit der ganzen Montur in der Brühe. Na ja, dann schleppt er die Maschine aus dem Schlamm, lässt sie wieder an und fährt weiter. Probiert hat er es wenigstens.

Gerd sprintet die Bahnhofstreppe hinunter. Zwei, drei Stufen auf einmal. Leute kommen ihm entgegen.

Einer ruft dem rennenden jungen Mann zu: »Kannst vergessen, der ist schon weg.«

Jetzt versucht er es erst recht. Treppe hoch, Gerd sieht die Waggons noch auftauchen.

Er nimmt die letzte Stufe.

Der Zug ist schon in Bewegung.

 

 

»Ich denk irgendwie: ›Ah, der is ja noch da.‹ Renne hin. Mache eine Türe auf. Dann geht alles so fürchterlich schnell.

Ich habe ja die Tasche und die Jacke in der Hand. Loslassen will ich sie nicht, in den Waggon schmeißen geht auch nicht.

Alles verheddert sich an der Klinke, ich renne neben dem Waggon her, der rechts von mir immer mehr an Fahrt aufnimmt.

Ich laufe, laufe, laufe. Immer schneller. Die Hand am Griff der aufgeschwenkten Tür.

Irgendwann kann ich das Tempo nicht mehr halten.

Ich schlage mit dem linken Knie am Bahnsteig auf. Denke, jetzt ist die Kniescheibe in Stücken.

Das Knie schlägt wieder und wieder auf.

Das Ende des Bahnhofs kommt rasend näher. Und dann – wie soll ich es sagen? –, dann zieht es mich rein. Wusch!

Ich rutsche aus.

Wusch! Ich weiß ja auch nicht.

Auf einmal ist es dunkel.

Ich rechne damit, dass ich irgendwo aufschlage.

Aber es zieht mich zwischen den Zug und den Bahnsteig in diese 30-Zentimeter-Lücke.

Dann wird es dunkel. Und ich denke: ›So, jetzt wird es gefährlich.‹

Ich ziehe den Kopf ein. Sehen tue ich nichts mehr, weil ich die Augen zu habe.

Ziehe den Kopf ein und denke: ›So klein wie möglich machen.‹

Dann tut es einen Schlag.

Bumm!

Ich kann nicht einschätzen, was los ist. Nur dieser Schlag.

Bumm!

Der Zug ist weg, es wird wieder hell, ich weiß, dass etwas Schlimmes passiert ist, da passt etwas nicht, kein Mensch in der Nähe, ich stehe auf und schleppe mich zurück zum Bahnhof, das ist ja ein ganzes Stück, es kommt mir vor wie zwei-, dreihundert Meter, ich erreiche den Bahnsteig.

Da sitzt einer auf einer Bank.

Der schaut mich an wie ein Alien. Ist so unter Schock, dass er gar nichts macht. Schaut nur. Stottert, ruft: ›Hilfe, Hilfe!‹

Jemand anders kommt auf mich zu. Noch einer, noch ein paar.

Sie ziehen mich aus dem Gleisbett auf den Bahnsteig, legen mich auf die Bank, so eine Holzbank.

Dann liege ich da.

›Wahnsinn!‹, denke ich. Ich weine.

Dann legt mir einer den Arm auf den Bauch. Der hängt noch in Fetzen am Körper, aber ich spüre ihn nicht. Das könnte auch der Arm eines Fremden sein, der da auf meinem Bauch liegt.«

Morgen: Behindert? Ich doch nicht! Oder?