DAS ENDE
berlin, 4. februar 2015
“Zweitausendeins”. Das waren einmal Inseln in deutschen Großstädten. Der Gründer-Laden im Herzen von Frankfurt. Die Bücherstube in München-Schwabing. Oder die Shops in der Kant- und der Friedrichstraße zu Berlin. Dort gingen die Uhren ein wenig anders, dort ließen sich die Menschen mit Behagen auf Bücher, Filme, Kunst oder Musik ein. “Zweitausendeins” war auch mal ein wunderbares Geschäftsmodell. Doch das war einmal. Heute machen die Läden dicht. Es ist ein Trauerspiel.
Die Kundin sieht nicht fröhlich aus. Sie arbeitet sich von einem Büchertisch zum nächsten, durch die Jazz- und die Klassik-CDs, sie nimmt die Stones und Billie Holiday in die Hände. Sie sucht dies und das aus und geht langsam zur Kasse. Jemand addiert im Computer Zahlen, der Computer zieht Rabatte ab, die Bücher, die Bildbände, die CDs und DVDs verschwinden in einer Tüte, die Kundin verlässt den Laden.
Ein letztes Mal steht sie so auf der Kantstraße:

Den “Zweitausendeins”-Laden im Rücken, neben dem Schaufenster eine kleine Box mit besonders günstigen Taschenbüchern. Es fehlt die Stellage, in der jahrein, jahraus das “Merkheft” ausgelegen hat. Das hat man dann noch in die Tüte gesteckt, kostenlos nach Hause getragen und später mit Behagen durchgeblättert. Da konnte man sich schon was Schönes für den nächsten Besuch bei “Zweitausendeins” ausgucken.
Das war mal.
“Zweitausendeins” verschwindet aus der Stadt. Anfang Februar macht der Kult-Kulturhändler dicht. Im Laden hängt ein Plakat, das den Kunden beruhigen soll: Man sei ja nicht aus der Welt, heißt es. Im Internet gebe es das phantastische Angebot immer noch. Zu besichtigen unter www…
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So geht das also. Im 45.en Jahr nach der Gründung verpisst sich “Zweitausendeins” ins Netz. Das macht die Kunden in der Kantstraße traurig. Sie sichern sich noch die letzten Sonderangebote von den niedrigen Stapeln und spüren, dass ihnen bald etwas fehlen wird.
“Zweitausendeins” – das war ein zuverlässiger Begleiter durch die Irrwelten der Buchstaben und der Töne. Wer sich dem “Merkheft” anvertraute, hatte immer wieder seine Glückserlebnisse.
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Da war zum Beispiel die Begegnung mit der dauer-renitenten Peggy Parnass. Die beließ es nicht beim Schauspielen, sie mischte sich auch als Gerichtsreporterin überall dort in der BRD ein, wo die Juristen die Fälle gern unter den Teppich gekehrt hätten. Parnass schrieb brillant, sie dachte unbestechbar, sie war unbequem – und das Establishment hätte sie am liebsten weg geschwiegen.
Aber 1978 veröffentlichte “Zweitausendeins” die “Prozesse 1970–1978”, das Buch musste wieder und wieder aufgelegt werden – und Peggie Parnass hatte eine zuverlässige Heimat gefunden. Man hörte ihr zu, wenn sie sagte:
“Das Schreiben ist doch auch eine Flucht. Da tauche ich von mir selber weg in andere Menschen hinein. Ich war ja nie eine distanzierte Reporterin, sondern richtig drin in dem anderen.Heute ist es komplizierter geworden. Mich interessiert, wie immer, alles. Ich schreibe auch noch, immer. Aber ich habe keine Plattform, keine Zeitschrift mehr. Die publizistische Landschaft ist so furchtbar eng geworden.
Ich kann nur hoffen, dass die Entwicklung auch wieder weiter nach links driften wird. Naturgemäß hört man uns Linken, wenn die Zeiten schlechter werden, wieder ein bisschen mehr zu.”
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Das “Merkheft” war eine Wundertüte. Was für ein Glücksfall, als “Zweitausendeins” mit einer Gesamtausgabe des furchtlosen französischen Jazz-Poeten Boris Vian auf den Markt kam. Die Vordenker des Kulturbetriebs rieben sich verwundert die Augen und konstatierten, dass sie da jahrzehntelang ein Genie verpennt hatten. Die “Zeit” tat öffentlich Buße:
“Boris Vian, der in ,13 unanständigen Geschichten‘ diese und eine Reihe anderer Konstellationen zwischen Tätern und Opfern, Mittätern und Mitopfern variiert, ist ein hierzulande fast unbekannter Autor, der es verdiente, ins Bewusstsein gerückt zu werden. Er ist einer von denen, der ohne Scheu vor Verfolgung und gesellschaftlicher Diffamierung, die Bettdecke lüftet, unter der der Mief und Muff, aber auch die verbrecherischen Sexualtabus kleinbürgerlicher Moralität verborgen sind.”
Dem Frankfurter Anarcho-Verlag ist es zu danken, dass wunderbare Texte wie der “Deserteur” wieder unters lesende Volk kamen. Das stürzte sich auf Zeilen wie diese:
Verehrter Präsident
Ich sende Euch ein Schreiben
Lest oder lasst es bleiben
Wenn Euch die Zeit sehr brennt.
Ich sende Euch ein Schreiben
Lest oder lasst es bleiben
Wenn Euch die Zeit sehr brennt.
Man schickt mir da, gebt acht
Die Militärpapiere
Dass ich in den Krieg marschiere
Und das vor Mittwoch nacht.
Die Militärpapiere
Dass ich in den Krieg marschiere
Und das vor Mittwoch nacht.
Verehrter Präsident
Das werde ich nicht machen
Das wäre ja zum Lachen
Ich hab kein Kriegstalent…
Das werde ich nicht machen
Das wäre ja zum Lachen
Ich hab kein Kriegstalent…
Parbleu! So wurden Monsieur Vians Texte zur Pflichtlektüre im Französisch-Unterricht. Wer hätte es gedacht?
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Oder wer hätte vermutet, dass der amerikanische Saufbold und Hurenbock Charles Bukowsky es bei den Deutschen zu einem gesellschaftsfähigen Autoren schaffen würde? Ohne “Zweitausendeins” hätte er keine Chance gehabt. Aber die Frankfurter glaubten an ihn. War doch ganz in ihrem Sinne, dass es da einen gab, der seine Bestimmung so erklärte:
“Eh ich schlafen gehe, staple ich die neuen Gedichte in der Mitte des Schreibtischs, damit man sie findet, wenn mein Verwesungsgestank zu arg wird. Nicht dass mein Tod tragisch oder von Bedeutung sein wird (ich hab dann alles hinter mir), aber die Gedichte werden meinen kleinkarierten Kritikern beweisen, dass ich gut war bis zum Schluss. Oder gar noch besser.”
Er sagte, er brauche ein paar Menschen, die an ihn als Schriftsteller glaubten. “Kein großer, nur einer, der Geld dafür kriegt und davon lebt und kein Auto braucht, keine Freundin; nicht jeden Tag zur Arbeit erscheinen müssen, nur Schriftsteller sein, es rauspumpen, Tag für Tag, Tag und Nacht. Die Idee, dass man ein Gedicht hinfetzen und etwas auf den Punkt bringen kann, hat was Verlockendes.”
Bei “Zweitausendeins” ließen sie den Bukowsky “pumpen”, bis er nicht mehr konnte. Dann gaben sie ihm eine Pulle Alkohol in die Hand, er regenerierte – und weiter ging’s mit “Pumpen” und Buch-Drucken.
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Manfred van Zütphen hat 14 Jahre bei “Zweitausendeins” in Frankfurt gearbeitet. Er war im Betriebsrat, als Ende der 1990-er die Geschäfte nicht mehr ganz so rund liefen. “Wir waren verwöhnt. Die Bezahlung im Unternehmen war fair und gerecht, das Klima gut, man war gerne ein Teil dieses lebendigen Unternehmens. Und wir haben die Gefahr nicht bemerkt.”
Da war dieses verfluchte Internet. CDs gingen nicht mehr so reißend weg, weil sich die jungen Leute die neuen Lieder auf die Rechner luden. Bücher verkauften sich nicht mehr mit der gewohnten Selbstverständlichkeit.
Es mischten neue Kaufleute in der Chefetage mit. “Die Philosophie des Unternehmens ist mit dem Einstieg der Kölmel-Brüder gestorben.”
Es sei traurig, was er aus Berlin höre. Man macht die Läden platt, “dann bleibt den Freunden nur noch das Internet.” Wobei – Optimist van Züpthen klingt kurz bitter: “Die Freunde von ,Zweitausendeins’ sterben sowieso gerade aus.”
Man merke mit dem Niedergang der Institution, dass man älter werde. Schon lange her, die Zeit, als der kleine Manfred den krassen Laden entdeckte. Da war er zwölf, 13, er wohnte mit den Eltern in der Frankfurter Innenstadt – und ist schnell mal zum Stiebitzen bei “Zweitausendeins” vorbei gewischt, wenn dort neue Ware angeliefert worden war.
Einmal – das war das Highlight – griff er zu, als er auf dem Weg zum Kicken in der Bockenheimer Anlage war.
“Es hat fein gerochen in dem kleinen Park– nach Grünem, Rotem und Schwarzem. Wenn die Bullen gekommen sind, haben die Hippies den Stoff in Büsche geschmissen. Wir haben mit dem Kicken aufgehört, das Zeug eingesammelt und später den Hippies wieder verkauft.
An diesem Tag also stehen wieder mal ein paar Paletten vor dem ,Zweitausendeins‘. Ich greif‘ mir eine Scheibe. Packe sie im Park vor dem Kick aus und krieg‘ die Motten. Geil: Das ist es so eine ganz bunte mit bekifften Farben. ,Iron Butterfly. IN A GADDA DA VIDA’. Das passte.”
Später hatte er die Kohle, um sich die Dostojewski-Ausgabe, die politisch unkorrekten Comics, die Underground-Musik legal beim “Zweitausendeins” zu holen. Und dann fing er im Unternehmen zu jobben an. Es war die beste Zeit seines Berufslebens. Man fühlte sich lässig, man gehörte zu den Unangepassten.
“Es konnte passieren, dass der Joschka Fischer bei uns rein gelatscht ist mit seinen Turnschuhen und sich mit Büchern eingedeckt hat. Den haben wir immer an den Leuten vorbei zur Kasse bugsiert, weil seine Bodyguards so verbiestert waren – das hat so ein bisschen auf die Stimmung gedrückt.
Der Cohn-Bendit war da schon viel lockerer. Einmal kam er an einem Montag – wir waren noch gar nicht richtig wach und vom Wochenende angeschlagen -, baute sich vor uns auf, breitete die „Bild“ auf dem Tresen aus und las vor. Einfach eine Schlagzeile nach der anderen. Wir haben uns gebogen.”
Sie haben viel gelacht zu dieser Zeit. Mit dem Rowohlt zum Beispiel. Wenn der gelesen und nebenher ein, zwei Flaschen Rotwein nieder gemacht hat, standen die Leute vor dem Lokal bis in den Park Schlange. “Der Typ hat zu unserer Philosophie gepasst. Hat sich vor nichts gefürchtet und sein Ding durchgezogen.”
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Frankfurt. Da hat alles angefangen. Nach einem Chianti- und Chips-Gelage haben die – eher verkrachten – Studenten Lutz Reinecke und Walter Treumann ihren seltsamen “anderen” Buchladen hoch gezogen. Und wie im Rest der Republik haben die arrivierten Herrschaften des Feuilletons auch in Frankfurt mit den kruden Typen von „Zweitausendeins“ nicht viel anfangen können. Der criticus maximus der Nation, Marcel Reich-Ranicki, hat die Autoren, die in dem lässigen Laden bestens behandelt wurden, oft mit großem Zorn verfolgt. Besonders heftig wetzte er gegen den Schriftsteller Eckhard Henscheid die Feder. Der erinnert sich:
“Wir beide sind uns häufig begegnet, wir waren in Frankfurt ja fast Nachbarn. Es gab von seiner Seite tückische Versuche, mit mir ins Geschäft zu kommen. Ich habe das Gott sei Dank rechtzeitig gemerkt. Obwohl er ein großer Gauner und grandioser Schwachkopf ist – es passen eigentlich sehr viele Vokabeln auf diesen Typus – und für mich lange Zeit eine große Negativfigur war: Gelegentlich war ich nahe dran, die amüsanten Teile seiner Persönlichkeit, die es zweifellos auch gibt, für mich selbst so zu interpretieren, dass es drohte, in Freundschaft auszuarten. Bei einer Begegnung in Frankfurt sagte er mir einmal, wenn ich wolle, dass er etwas für mich tut, dürfe ich ihn nicht immer als den dümmsten aller Kritiker bezeichnen. Dabei habe ich ihn gar nicht als den dümmsten, sondern nur als den lautesten bezeichnet. Aber auf die Idee, dass ich gar nicht wollte, dass ausgerechnet er etwas für mich tut, kam er gar nicht.”
Er hat gut lachen, der Henscheid. Einer wie Reich-Ranicki konnte ihn nicht klein kriegen. Auch, weil es “Zweitausendeins” gab. Der Verlag pflegte den Oberpfälzer Querkopf sorgsam und zitierte anlässlich der Henscheid-Werkausgabe drei Kollegen: Brigitte Kronauer erklärte zur Romantrilogie (1973-78): “Mir war auf Anhieb klar, dass es sich für mich um das große Romanwerk nach dem Zweiten Weltkrieg handelt.” Martin Mosebach brachte es auf vier Wörter: “Henscheid ist ein Erdteil.” Und auch Martin Walser ließ sich auch nicht lumpen: “Für mich ist ,Maria Schnee‘ das Erzählwerk „mit dem größten mir bekannt gewordenen Atomgewicht.”
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So war das mal. Waren schöne Zeiten.
Die Verkäufer in der Kantstraße stehen im Lager zusammen und erzählen sich Geschichten über Bücher. Sie lachen viel und zu laut. Früher haben sie ganz selten und verhalten gelacht. Man wollte die Kundschaft nicht stören. Man arbeitete schließlich bei “Zweitausendeins” – da wurde Literatur nicht als Ware behandelt, man hatte Respekt vor dem, was in den Regalen lag.
Jetzt lachen die Angestellten über ihren Frust und ihre Angst hinweg.
Ein Kunde tritt an die Kasse, will bezahlen. Mozart und ein Grosz-Bildband. Der Verkäufer – es ist der nette mit dem wilden rötlichen Haar und dem lichten Bart – öffnet die Kassette mit den Tonträgern, sagt lächelnd “sehr schöne Aufnahme!”

“Ja”, erwidert der ältere Herr und kramt den Geldbeutel aus dem Mantel. “Ist ja schade, dass es Euch nicht mehr gibt. Was machen Sie denn jetzt.”
Der Verkäufer sieht sehr unglücklich aus, zuckt mit den Schultern. Er sagt: “Es gibt ja das Unternehmen weiter…”
Der Kunde winkt ab. “Geh mir doch weg mit dem Internet. Ist doch nicht das Gleiche.”
“Ich weiß”, sagt der Verkäufer.
Der ältere Herr verlässt den Laden. Er steht auf der Kantstraße und will sich ein “Merkheft” greifen. Alte Gewohnheit.
Aber es gibt kein “Merkheft” mehr.
