VATER, JUNG

„2017”*, Folge 100, 26. Dezember. “Berliner Woche”/III

 

“Was Du für Sachen machst”, sagt sie. Sieht Hans Krohn an – er trägt ein rosafarbenes Schlaf-Shirt von ihr, das gefällt ihr augenscheinlich, er fühlt sich auch wohl drin, genießt die Lässigkeit eines befriedigten Körpers.

Elly schlägt das Ei mit dem Löffel an, pellt es mit der Hand, erklärt, es sei doch wunderbar, mal mit einem klaren Kopf aufzuwachen, das werde sie wiederholen, dieses maßvolle Trinken, und auch den Sex könne man wieder auf die Agenda setzen.

Sie ist aufgekratzt und fragt und fragt. Warum Hans quer durch Deutschland gelatscht sei? Was er damit meine: Er habe die Dämonen aus seinem Leben jagen wollen? Warum ein toter Freund, eine Ex oder die Eltern so einem Kerl wie dem Hans Krohn die Beine wegziehen können? Er sei erwachsen – da wisse man schließlich, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist. Man heule nicht rum. Wenn man hin falle, stehe man wieder auf und mache weiter.

Auf die Fresse gekriegt? Mund abputzen!

So geht das.

Sagt Elly – und wird auf einmal still.

Nein. Sagt sie. “Hast Recht – so geht das nicht.”

Sie hat keine Wörter mehr.

Krohn kaut am Marmeladenbrot, trinkt einen Schluck Kaffee. Dann:

“Du denkst an Deine Mutter, is doch so?”

“Nee.”

“Aber…”

“Ich denke an den Papa.”

Sie geht zum Wohnzimmerschrank, zieht eine Schublade auf, kommt mit einem Fotoalbum zurück. Rückt ihren Stuhl neben seinen, schiebt Tassen und Teller beiseite, wischt mit der Handkante den Tisch sauber, legt das Album drauf, öffnet es.

Es ist ein dickes Album. Heller Plaste-Einband mit Berliner Ansichten. 48 beidseitig bestückte Kartons, dazwischen das Spinnenpapier. Die Schwarzweißfotos aus den ersten Jahren sind winzig, das Format wächst, im Schnitt passen auf jede Seite drei Aufnahmen, die in Fotoecken fixiert sind. Knapp 300 Aufnahmen, beginnend mit dem Porträt des neugeborenen Max aus dem Jahr 1925. Drunter steht: “Der ganze Stolz von Papa und Mama”. Es folgen “Mein Opa und ich”, “Der kleine Gärtner”, “Ich und die anderen Affen – Ausflug zum Zoo”, “Der Ernst des Lebens: erster Schultag”…

Ja, murmelt Elly, das ist geblieben vom Leben des Vaters. Hans Krohn setzt die Lesebrille auf, sieht ins Album, hört Ellys Stimme und verschwindet im Leben von Max…

 

Geboren 1925, draußen in Lichtenberg. Vater Trinker und gelegentlich auf Arbeit. Mutter wäscht und flickt für die Anderen, hält die Familie am Leben und stirbt mitten im Krieg. Da ist der Vater schon ein toter Held.

Rest der Kindheit bei den Großeltern in Köpenick.

Nachm Krieg zum Hamstern nach Bernau und Eberwalde, nach Löwenberg und Müllrose.

Schnell erwachsen und gewitzt. Auf den Schwarzmärkten ein smartes Kerlchen. Die wichtigen Sachen fürs Leben lernt Max im Bau.

Wird nie mehr aus Berlin raus kommen, bis zum Sterben nicht. Große Reisen gehen nach Erkner und an den Wannsee, nach Teltow oder Pankow. Ansonsten: Berlin, mittendrin.

Nichts gelernt. Motoren geschraubt. Pferde versorgt. Gerüste gebaut. Karussells geschubst.

Der Sport. Max ist Schwergewicht, Rechtsausleger, schwarzhaarig mit Bärenbrust und bulligem Bizeps. Einer, der nicht aufgibt. Hat bald ‘ne platte Nase und Blumenkohlohren. Aber er ist immer am Lachen – selbst wenn er mit dem Arsch auf den Brettern landet, reibt er sich den schmerzenden Schädel und grinst noch frech.

Der Max.

Die Frauen.

In jedem Kiez eine.

Is ja kein Ding. Er lacht sie so lange kess an, bis sie mit ihm hinter die Büsche gehen.

Irgendwann verliert er nur noch.

Irgendwann trifft er eine Schöne am Alexanderplatz. Sie haben ein Missgeschick, Elly kommt zur Welt.

Da macht sich Max ausm Staub, ab nachm Westen. Da ist sowieso der Rummel bunter. Max wird nicht mehr gesehen in seinem Revier von früher. Er wird im amerikanischen Sektor als der “berühmte Preisboxer” so vermöbelt, dass er manchmal morgens vor Schwindel nicht geraden Gangs zur Waschschüssel kommt.

Elly wächst behütet auf – sie wird es nicht erleben, wie ihr Erzeuger – Tag für Tag, Woche für Woche, jahrein, jahraus – seinem Untergang entgegen wankt.

Sie wird ihn erst kennen lernen, als er keine Chance mehr hat…

 

“Willste das wirklich hören? Das muss Dich doch langweilen”, sagt Elly.

Hans Krohn ist erschrocken. Nein, er will es wissen. Wie war das, als sie ihren Vater zum ersten Mal sah?

“Warte?”

Sie holt ein anderes Album. Es ist bunter, die Fotos sind farbig, die letzten zehn Seiten sind leer.

“Da. Schau.”

 

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.