UNFALL

„2017”*, Folge 78, 4. Dezember. “Durchs Land”/XX.

 

Roth. Krohn wandert den Weg am Kanal entlang. Es ist grau und dezemberkalt, aber Hans Krohn fühlt sich nicht allein am einsamen Kanal. Er erinnert sich an einen Triathlon-Wettbewerb – lang ist das her, zwei Menschengenerationen beinahe.

Er musste noch zehn Kilometer laufen, dann war er ein Ironman. Hinter ihm und vor ihm mühten sich andere Frauen und Männer den weißen hitzeflirrenden Kiesweg entlang.

Er kotzte. Röhrend übergab sich Krohn am Kanalufer. Jemand fragte, ohne großes Mitleid, ob er Hilfe brauche. Krohn winkte ab, wischte sich den Mund, und marschierte weiter in Richtung Ziel.

Er weiß auch jetzt noch, wie er sich fühlte. Gottverlassen und sehr allein mit seinen Schmerzen. Aber er wollte es nicht anders. Er wollte großartig werden durch die Schmerzen, die er aushielt. Wenn der Körper revoltierte, spürte sich Hans Krohn ganz lebendig.

 

Nun marschiert er den Weg wieder. Keine Menschen, er ist allein mit seinen Erinnerungen.

Ist ein langer Marsch hierher gewesen. Jetzt rechnet Krohn mit seinen Schmerzen ab. Mit seinen Fehlentscheidungen. Und mit den Menschen, die ihm nicht so sonderlich gut getan haben.

 

xxx

 

Ein Unfall ist er gewesen, hat der Vater mal – da hatte er seinem Verstand schon nachhaltigen Schaden zugefügt – gesagt.

Sebastian Krohn stierte über seinen wuchtigen Schreibtisch auf dem Biergläser Flecken in die Eiche rustikal tätowiert hatten, er hatte von einem Treppensturz ein blutunterlaufenes Auge. Er glotzte seinen Sohn zornig an

„Du weißt schon, dass Du ein Unfall gewesen bist.“

Er war nun nicht zu bremsen. Erzählte, wie er erschrocken sei, als ihm seine Freundin sagte, sie sei schwanger. Er war gerade aus Düsseldorf zurück und hatte ihr noch gar nicht erzählt, was für ein wunderbares Wirtschaftswunder-Karriere-Angebot man ihm dort gemacht hatte. Er würde wahrscheinlich annehmen, vielleicht würden sie heiraten, sie würden auf jeden Fall umziehen. So hatte Sebastian sich das ausgemalt, und nun erfuhr er, dass er bald Vater würde.

„Das hat mir echt nicht gepasst. Düsseldorf war meine große Chance – und jetzt bist Du daher gekommen. Aber Deine Mutter und ich haben das dann so geregelt, dass es gepasst hat.“

 

Er hat das wirklich prächtig gedeichselt, der Sebastian Krohn. Er unterschrieb in Düsseldorf und siedelte um. Zuvor wurde geheiratet – aber die Frau blieb in Bayern. Sie brachte den Sohn zur Welt und wohnte noch ein Jahr bei ihren Eltern.

Sebastian Krohn schickte ein bisschen Geld und machte sich rar. Den Sohn Hans sah er zum ersten Mal, als der schon gehen und Mama/Opa/Oma sagen konnte.

Erst dann war die Familie „vereint“. Aber was wollte das schon heißen bei einem Mann wie Sebastian Krohn?

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.