TOT AM STRAND

sommer zwanzichfuffzehn XXXVI

Krohn stapfte durch die Stadt, über den Marktplatz. Er erreichte den Stand mit italienischen Spezialitäten, als Sabrina gerade die Läden hoch klappte. Sie lächelte morgenfrisch – dabei hatte sie in der Hitze den ganzen Tag lang Salami und Käse und Mortadella verkauft.

Sein Zorn legte sich ein wenig. Welch ein Glück, diese Frau zu haben.

“Was hast Du?”, fragte sie, als sie fertig war. “Lass uns einen Wein trinken und erzähl mir.”

Was für ein Glück, dachte er, sie fühlt mich.

Sie saßen vor einem Bistro, er legte die “Bild” auf den Tisch.

“Diese Verlogenheit macht mich krank.”

Letzte Seite. Toter Junge. Trauerrand.

Ein syrisches Kind liegt tot am

Strand von Bodrum (Türkei),

ertrunken auf der Flucht vor dem

Krieg in seiner Heimat,

gestorben auf dem Weg nach

Europa. Bilder wie dieses

sind schändlich alltäglich geworden.

Wir ertragen sie nicht mehr,

aber wir wollen, wir müssen sie

zeigen, denn sie dokumentieren

das historische Versagen unserer

Zivilisation in dieser

Flüchtlingskrise. Europa,

dieser unermesslich reiche

Kontinent, macht sich schuldig,

wenn wir weiter zulassen,

dass Kinder an unseren Küsten

ertrinken. Wir haben zu viele

Schiffe, zu viele Hubschrauber,

zu viele Aufklärungsflugzeuge,

um dieser Katastrophe

weiter zuzusehen. Dieses Foto

ist eine Botschaft an die

ganze Welt, endlich vereint

dafür zu sorgen, dass kein

einziges Kind mehr auf der Flucht stirbt.

“Wieso verlogen?”, fragte Sabrina, nachdem sie gelesen hatte. “Das ist doch alles wirklich schlimm.”

“Ja, ist es. Aber diese Typen von der Bild heucheln. Sie haben gerade eine wunderbare Zeit, weil ihnen die Fotos von toten Menschen nur so auf den Tisch flattern.”

“Hans, Du gehörst nicht zu ihnen. Du wirst sie nicht ändern. Du musst nicht traurig werden, weil sie sind, wie sie sind. Lass’ uns lieber ins Hotel gehen. Ich will neben Dir sein. Vielleicht hilft es, wenn wir für uns sind. Lass die Zeitung liegen, erzähle mir nachher lieber weiter.”

So geschah es.

 

Der Einzige, dem Romina vertraute, war ihr Bruder. Er hielt sich im Hintergrund und erledigte die unangenehmen Dinge. Romina stand an der Rampe – und er sorgte dafür, dass sie nach dem Auftritt ihre Ruhe hatte.

Udo Krawittke hatte den Sinn für sich gefunden. Die Arbeit als Buchhalter hatte er aufgegeben. Er war verantwortlich für das öffentliche Lächeln seiner Schwester. Er führte ihr die Liebhaber so zu, dass die Typen von der Presse nichts mit bekamen. Er sorgte dafür, dass niemand – außer natürlich ein paar Ärzten – die zerbrechende, tieftraurige, desolate Romina zu Gesicht bekam.

Mit 20 war sie süchtig. Krawittke kannte die guten Dealer in jeder größeren deutschen Stadt. Er besorgte den Stoff, der seine Schwester fröhlich hielt. Er brachte sie ins Bett, wenn der Stoff sie gefällt hatte.

Einmal dachte er, er hätte sie über den Berg. Der Arzt hatte sie überredet, eine Kur zu machen. Sie sagten – Grund war eine „rätselhafte Erkrankung“ – eine Tournee ab. Udo brachte Romina in eine Klinik im Schwarzwald. Er hatte sich in einer Pension im Nachbarort einquartiert und erlebte beglückt, wie Romina gesundete.

„Du wirst wieder ganz die Alte“, sagte er während eines Spaziergangs.

 

„Komm, setzen wir uns“, antwortete sie. „Was glaubst Du, will ich das? Wieder ganz die Alte sein? Überhaupt, was ist denn das?“

Er blickte sie verwundert an. „Naja, ich meine, Du wirst die, die alle so lieben. Die Romina mit ihrem Optimismus und den vielen schönen Schlagern. Und die, die auch ganz schön frech sein kann.“

„Die Leute sind immer auf dem Holzweg gewesen. Ich bin ganz anders. Ich habe eine Andere gespielt, seit ich denken kann.“

Aber…“

„Nix Aber. Alle erwarten von mir, dass ich fröhlich bin, immer fröhlich. Die Romina macht die Sorgen weg, die Romina kennt keine Sorgen. Immer muss ich funktionieren.“

„Du hast das doch gewollt. Du hast immer davon geträumt, dass Dich die Menschen mögen.“

„Sie mögen ja nicht mich. Für sie bin ich die Frau, der alles zu fliegt. Die sehen doch gar nicht, wie viel harte Arbeit hinter allem steckt.“

Sei ehrlich: Du willst es gar nicht anders.“

„Schon. Da hast Du zum Teil Recht. Ich mag die Arbeit. Aber manchmal habe ich gedacht, ich kann das alles nicht mehr bringen.“

Sie solle sich beruhigen, meinte Udo. Nun könne sie sich alle Zeit der Welt zur Erholung nehmen – und dann werde man es wieder anpacken.

„Wir werden aufpassen, dass es nicht zuviel wird. Du musst nicht alles machen, was sie Dir anbieten. Das hast Du nicht mehr nötig.“

Stimmte. Udo musste es wissen, er verwaltete die Finanzen seiner Schwester. Die verdiente prächtig. Ihre Gagen waren im Land unerreicht. Die Angebote stapelten sich. Wenn sie wollten, konnten sie Romina die nächsten zwölf Monate verplanen.

Udo war ein kluger Sachwalter. Er handelte lukrative Engagements aus wie kaum ein Anderer. Man unterschätzte ihn leicht, diesen vierschrötigen Mann mit dem tumben Gesicht und den schlecht sitzenden Anzügen. Ihm traute man die Wendigkeit nicht zu, mit der er sich im Business bewegte. Mit der Zeit sprachen sich seine Qualitäten herum, und man war auf der Hut, wenn man mit Udo Krawittke zu tun hatte.

Romina verdiente einen Haufen – und ihr Bruder kümmerte sich darum, dass das Geld richtig angelegt wurde. Er kaufte zwei Häuser, bunkerte ein wenig Gold, ließ seine Schwester an Leib und Gliedern versichern, bündelte solide Aktien zu einem konservativ-sicheren Paket. Udo erledigte für Romina alles – nur singen und leben musste sie allein.

 

Sie brachte ihre Kur zu Ende und kam frisch wie ein junges Mädchen nach Berlin zurück. Da war es wieder, das alte freche Lachen: ein kleines Keckern, das zu einer Kaskade der Heiterkeit anschwoll, dann schließlich in ein atemloses Prusten überging. Romina konnte über Nebensächlichkeiten einen Koller des Frohsinns bekommen, dabei riss sie alle Menschen in der Umgebung mit.

Die Besten in der Branche schrieben der „besten Romina aller Zeiten“ die Lieder auf den Leib. Ihre Platten gingen rasend schnell weg. Mit 27 wurde sie in die DDR eingeladen und trat bei „Ein Kessel Buntes“ im Friedrichspalast auf. Eine Sensation war das: Westdeutscher Schlagerstar als Zonen-Star zur besten Sendezeit. Die „Bild“ feierte „unseren Friedensengel Romina“, in der Deutschen Demokratischen Republik waren sie hingerissen. Sogar Honecker soll gesagt haben, dass er die „Göre gern sähe“.

In der Woche nach dem Auftritt gab Romina dem „Stern“ ein Interview und machte mit dem Spruch „Wat wollt Ihr denn? Bloss wejn der bleeden Mauer hört doch keener von uns auf, ’n Deutscha zu sein“ Furore.

Da konnten sie alle nur zustimmen: der Kohl und der Brandt, der Honi und der Strauß. Romina brachte sie alle zusammen.

Keine „Bravo“ ohne Romina. Die Zeitschrift hob den „Star aus dem Hinterhof“ ein ums andere Mal auf den Titel. Monatelang lockte sie die jungen Leser mit einer Doppelseite im Innenteil, die zusammen mit den anderen Doppelseiten zum Schluss zu einem lebensgroßen Starschnitt verklammert werden konnte.

Romina war eine reine Frau. Die Unschuld von Berlin. Die verkörperte Sehnsucht junger Mädchen. Romina lebte das heilige Leben vor. Das hörte sich dann „im Bravo“-Interview so an:

Sabine aus Hannover: Was hast du vor, wenn du einmal nicht mehr so bekannt sein wirst wie heute?

Romina: Darüber habe ich mir noch keine Sorgen gemacht. Ich hoffe aber, dass ich innerhalb der nächsten zehn Jahre verheiratet sein und viele Kinder haben werde.

Ricarda aus Beiburg: Wieviel Taschengeld hast du mit 13 Jahren bekommen?

Romina: Du wirst lachen, gar keins. So gut ging es uns damals nicht. Ich bin immer für die Leute im Haus einkaufen gegangen, und dann habe ich hier mal und da mal einen Sechser bekommen. Wenn 50 Pfennig zusammen kamen, war ich schon riesig stolz.

Wolfgang aus Berlin: Was meinst du, kann man mit 22 Jahren heiraten, wenn man sich drei Jahre kennt?

Romina: Du bist Berliner, wa? Det merkt man. Weeßte, ick bin der Meinung, man kann schon heiraten, wenn man eenen Jungen erst zwee Jahre kennt. Hauptsache: Du weeßt janz jenau, dass ihr euch beide jern habt. Und mit 22 Jahren? Aba selbstvaständlich.

Romina war für die „Bravo“-Leser die Rettung in einer Zeit, in der unangepasste junge Menschen auf die Straße gingen, einen Rudi Dutschke zu ihrem Messias erkoren hatten und Springers Hochhäuser anzündeten. Rominas Welt war heil und geschützt. Die Jungen wuchsen wacker ins Mann-Sein, die Mädchen bereiteten sich auf ihre Frau-Rolle vor. Dem „Bravo“-Reporter Dirk Fonda erzählte Romina in einer großen Serie unter dem Titel „Der Traum aller Mädchen“ aus ihrer Wunschwelt:

„Ich suche Schutz in der Ehe, ich suche Geborgenheit, Sicherheit. Etwas, das mir zu Hause gefehlt hat. Ich war fast immer allein und bin es auch jetzt noch. Ich brauche einen klugen und gütigen Kümmerer, der mir viel abnimmt.

Zum Beispiel das ganze Geschäftliche, die Verträge, das Zeug, von dem ich überhaupt nichts verstehe. Da wäre ich heilfroh, wenn mir das einer vom Hals schaffte.

Dabei fällt mir ein: Mein Mann dürfte niemals auf die Idee kommen, er hätte Romina, den Schallplatten-Star, geheiratet. Da hätte er die Falsche erwischt. Ich bin kein Star, ich will das nicht. Ich liebe das Einfache, das Natürliche. Ich brauche keine große Show im Privatleben, den tollen Schmuck oder den schnellen Sportwagen. Ich würde es schon ganz prima finden, wenn ich abends mit meinem Mann am Kamin sitze, ein Glas Wein trinke und ein Buch lese, während oben die Kinder schlafen.

Bis jetzt habe ich den Prinzen noch nicht gefunden.

Es sind welche gekommen, aber das waren meistens die Falschen. Die Burschen, die von der eigenen Unwiderstehlichkeit überzeugt sind und meinen, wenn sie auftauchen, fällt jede vor Seligkeit gleich um. Es gibt da beispielsweise einen, das ist ein Schrank von einem Mann, mit anständigem Benehmen und einem guten Beruf. Der ist seit drei Jahren hinter mir her, aber es ist zwecklos. Er ist unsagbar stur. Fast täglich schickt er mir einen Liebesbrief, überschüttet mich mit roten Rosen und macht mir Heiratsanträge. Warum merkt er nicht, dass er mir immer mehr auf den Wecker fällt, je länger er mir im Wege steht? Er tut mir ja nichts Böses, höchstens Leid tut er mir. Das Beste, was er tun könnte: mich in Ruhe lassen.“

Das waren Artikel, so ganz nach Udos Geschmack. Solange Romina so dachte, hatte er sie für sich.