SEELE KAPUTT

berlin, 6. mai 2015

Um kurz vor sechs Uhr morgens drückt sich Samira durch eine Seitentür aus dem Martin-Gropius-Bau. Sie ist so müde, so schrecklich müde. Die junge Frau, die einmal sehr hübsch gewesen ist und jetzt, mit 25, schon aussieht wie eine alternde Vergessene, braucht eine kurze Auszeit von Herrn Fassbinder.

Samira hat leere Gläser weg geräumt, sie hat Hunderte von Kippen vom Boden gefegt. Die Gäste des letzten Abends haben mächtig Party gemacht. Was sie nur an diesem Sammelsurium so toll gefunden haben. Ein Rennrad, bekritzeltes Papier, alte Klamotten, wilde Filmausschnitte… Ein kunterbuntes Trödel-Durcheinander. Bei Samira landet solch ein Kram auf dem Sperrmüll.

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Auf der Straße gelandet: Der Macher und sein Vorzeige-Weibchen.

Die Putzfrau vor dem Gropius-Bau will gar nicht verstehen, was es da drin zu feiern gab. Sie hat genügend andere Probleme. Die Kinder (drei sind es) trudeln durch ein schwieriges Alter, der Mann hat sich mit einer Anderen verdrückt, der Vater ist gestorben, und die Mutter verlässt das Zimmer in Neukölln nicht mehr. Samira hat ständig Sorgen. Wenn es diesen Job nicht gäbe, geriete das Leben aus den Fugen.

Kurz nach Mitternacht verlässt sie die schlafende Familie, gegen zehn Uhr vormittags ist sie zurück und kümmert sich um den Haushalt. Sie schläft zu wenig, die Kinder sind zu laut, die Mutter ist zu traurig – an Männer mag Samira gar nicht mehr denken.

Die Frau sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Klappstuhl und spürt die Wärme der Morgensonne nicht. Gierig saugt sie den Rauch in sich hinein, gierig trinkt sie den schwarzen Kaffee.

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Himmelsstürmer und Museums-Eroberer: Rainer-Werner Fassbinder hat es in den Olymp geschafft. Hilft ihm nicht viel – tot, wie er ist.

Samira: Sie war mal eine Frau wie aus einem Fassbinder-Film. Oder, wie es die “Berliner Zeitung” beschreibt:

“In seinen Frauengestalten steckt der Blick des (drei Wochen nach Kriegsende geborenen) Kindes auf seine alleinerziehenden Mutter – der staunende Blick auf die Nylonstrümpfe der 1950er-Jahre, die ondulierten Haare, diese unnachahmlich zeittypische Art des Sich-Zurechtmachens. Ihren erotischen Reiz beziehen Fassbinders Frauenfiguren aus dem Changieren zwischen Hölzernheit und Verletzlichkeit. Wie beharrlich er diesen geradezu sozialpolitischen Fetisch immer wieder verfolgte, zeigen auch die großartigen Kleider der Kostümbildnerin Barbara Baum, die in einem eigenen Raum zu sehen sind. Betörend schöne Roben, die wie Panzer wirken – Kleider wie Rüstungen, Mäntel, die ihre Trägerinnen zugleich schützen und ausstellen.”

Für den rbb ist bei den Fassbinder-Frauen freilich die “Rüstung” verschlissen, der Lack ab: “Die Putzfrau Emmi aus Fassbinders Film ,Angst essen Seele auf’ – gespielt von Brigitte Mira – hat sich in den 20 Jahre jüngeren Marokkaner Ali verliebt. Die beiden heiraten, leben zusammen. Unerhört, diese ungleiche Liebe – im vorurteilsbeladenen Deutschland der 70er Jahre.”

Bis zum 23. August werden die Besucher im Gropius-Bau an “Angst essen Seele auf” erinnert. Sie werden mit dem Eindruck die Ausstellung verlassen, da habe ein Besessener großes Kino gemacht.

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Genie in der Gosse. Der Rest vom Fest.

Zu Lebzeiten – 1974 war das – musste der rüde Regisseur noch für seinen Film in den Ring steigen. In Cannes saß Fassbinder nach der Premiere unmanierlich in einem tiefen Sessel, breitbeinig und betont gelangweilt. Ein Kritiker mäkelte, “Angst essen Seele auf” sei “provinizell”. Ob er – Fassbinder – nicht auch verwundert sei, dass der Film auf dem Festival zum Überraschungserfolg wurde? Fassbinder schlug die Beine übereinander und blickte den Fragesteller mit großer Verachtung an. Nach langem peinigenden Schweigen räusperte er sich. “Für mich war es nicht so überraschend. Ich glaube, der Film ist nicht so provinziell wie ihr es seid!”

Basta! Das Enfant terrible hatte gerülpst.

Heute machen sie seinetwegen den Schampus auf und sie rollen ihm einen Roten Teppich aus. Er kann ja nicht drauf kotzen, er ist ja tot. Und ein toter Künstler ist ein guter Künstler.

Und Samira?

Die hat ihre Zigarettenpause beendet, steckt das Handy in den Kittel, schlurft mit müden Schritten zum Seiteneingang des Martin-Gropius-Baus und verschwindet seufzend. Der Rest vom Fest muss noch weg gemacht werden, bevor die ersten zahlenden Besucher kommen und sich die Hinterlassenschaften dieses schmuddligen jungen Mannes anschauen.

Samira zieht die Tür hinter sich zu. Sie wird nie einen Film von Rainer-Werner Fassbinder sehen. Ist auch nicht nötig, sie spielt eines seiner Stücke jeden Tag. Bei ihr heißt es seit geraumer Zeit:

Angst hat Seele aufgefressen.