SCHRITTWEISE

„2017”*, Folge 66, 22. November. “Durchs Land”/VIII.

 

München. Auf dem Kegel des Olympiabergs stützen sich die Spaziergänger und Jogger aufs Geländer und schauen zu den Bergen. Von den Allgäuer bis zu den Chiemgauer Alpen schließen sie als Scherenschnitt das Land ab. Darüber ein fast makelloser blauer Himmel.

Es ist warm geworden, die Menschen ziehen die Anoraks aus und schlingen sie um die Hüften. Eine Wohltat ist dieses Wetter nach dem Grau der letzten Tage.

Auch Hans Krohn atmet auf. Das wird wohl sein letzter Tag in München sein, dann ist es auch genug.

Lächelnd hält er das Gesicht in die Sonne. Ihm geht es gut, er tut sich gut.

Alles auf Null, denkt er und grinst. Mit knapp 60 stelle ich endlich nochmal alles auf Null. Das ist so schwer – und es ist dann doch ganz simpel.

Am Vormittag ist er bei den Anonymen gewesen. Hat nichts gesagt. Nur in der Nähe der Tür gesessen und mäßig konzentriert zugehört. Er kannte den Treffpunkt in einer evangelischen Kirche, dort hat er schon vor 30 Auswege aus dem Suff gesucht.

Alles wie damals.

Die Thermoskannen mit Kaffee und Tee, die um den Tisch geschoben wurden. Die geschmacklosen Tassen aus billigen Erden. Die unappetitlichen Flyer mit ihren neunmalklugen Lebenshilfen.

Die Runterbeterei der „zwölf Schritte“.

1. Schritt. Zugeben, dassde ein Säufer bist. 2./3. Schritt: Gottvertrauen. 4.: Inventur. 5.: „Mea Culpa“ schreien. 6.: Schon wieder soll’s Gott richten. 7.: Gott anbetteln, er möge helfen. 8./9.: Es bei den Menschen wieder gut machen, bei denen man Scheiße gebaut hat. 10.: Inventur, Inventur, Inventur. 11.: Mit Gott quatschen.

„12. Schritt
Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.“

Gott, wie diese Schritte-Gläubigkeit Hans Krohn auf den Sack geht. Er säuft – und da hilft die Frömmelei nicht raus. Er wird die Demut und den Kleinmut nicht wie eine Monstranz vor sich her tragen. Die Lichtpfade zur Nüchternheit sind ihm suspekt.

So oft schon hat er das versemmelt mit dem Trocken-Sein, dass er sich nicht mehr traut.

Ihn hält kein Gott auf den Beinen. Geschissen auf den Typ. Ihn hält aufrecht, dass er leben will.

Warum er dann am Vormittag in den kleinen nach ungutem Schweiß riechenden Raum gegangen ist?

Er wollte nur zuhören.

Es sind immer die gleichen Geschichten, die erzählt werden. Die Geschichten der anderen armen Schweine und seine eigene.

Aufgewacht und keine Ahnung, was in der letzten Nacht abgelaufen ist.

Aufgewacht und zuerst einmal was getrunken. Wegen der Zitterei und so.

Aufgewacht und an den Strick gedacht.

Aufgewacht und nicht mehr hochgekommen. Zum Kühlschrank gekrochen. Leer, das dumme Ding. Alkohol gesucht, in der ganzen Wohnung. Mit letzten Kräften und der letzten Penunze Alk beim Discounter geholt.

Aufgewacht, in einem Graben oder auf einer Bank.

So haben sie es auch heute wieder erzählt. Und Hans Krohn war ganz zufrieden. Dass er da saß und nur noch ein klein bisschen zitterte. Dass er aufgewacht war und ganz nüchtern Angst vor seinen Erinnerungen an den Vater gehabt hatte. Dass er aufrecht aus der AA-Versammlung gehen würde.

Er steigt guter Dinge vom Olympiaberg, verlässt den Park, quert den Leonrodplatz, schlendert ein Stück weiter in Richtung Hotel, biegt – ohne zu wissen, warum – in die Fasaneriestraße ein. Wie fremdgeseuert ist er, als er das Brünner Eck“ betritt.

Hans Krohn bestellt Kaffee und Marillenknödel. Er fühlt sich zuhause.

Warum das denn, zum Teufel?

Er sieht sich um. Er kennt sich aus. Hans Krohn erinnert sich.

Hier hat er vor 30 Jahren auch gehockt und geglaubt, dass nun herrliche Zeiten anbrechen würden.

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.