REDEBEDARF

„2017”*, Folge 70, 26. November. “Durchs Land”/XII.

 

München. Herbst. Kalt. Feucht. Trüb. Düstere Gedanken.

Die „Abendzeitung“ erzählt:

„Eine 43-Jährige ist im Münchner Stadtteil Harlaching bei einem Messerangriff getötet worden. Als Tatverdächtiger gilt ihr ebenfalls 43 Jahre alter Ehemann. Nachbarn waren gegen 4.00 Uhr auf das Paar aufmerksam geworden. Als die Polizei eintraf, stand der Mann neben seiner verletzten Frau. Diese wurde mit mehreren Stichverletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Während der Fahrt versuchten die Retter, die 43-Jährige wiederzubeleben. Sie starb jedoch wenig später im Krankenhaus.“

 

Der „Münchner Merkur“ vermeldet:

„Er war unzufrieden mit den Fahrkünsten seiner Frau. Mehrmals griff ihr der 36-Jährige ins Lenkrad, bevor die 42-Jährige auf dem Seitenstreifen hielt. Der Mann zog sie gewaltsam aus dem Fahrzeug und fuhr ohne sie weg, wie die Polizei am Sonntag mitteilte. Die Verkehrspolizei las die Frau auf der Autobahn auf. Den alkoholisierten Mann traf die Polizei auf einer Geburtstagsfeier eines Nachbarn an. Gegen ihn wird nun wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, vorsätzlicher Körperverletzung, Nötigung und Trunkenheit im Verkehr ermittelt.“

Die „Welt“ berichtet:

„Die Scheidungsrate ist in München besonders hoch. Für Ehemänner, die nach einem Streit erst einmal allein sein wollen oder, das soll ja auch vorkommen, einfach vor die Tür gesetzt werden, bietet die Hotelgesellschaft Derag Hotel & Living eine Notunterkunft an: das Männerzimmer. Der Slogan lautet: ,Alles was Mann braucht‘. Bei der Ankunft steht ein Sixpack Bier bereits gekühlt in der Minibar, und es darf sogar geraucht werden – eine Zigarre liegt als Notfallpaket auf dem Couchtisch. Der bereits freigeschaltete Pay-TV-Kanal kann die ganze Nacht laufen, und das umsonst. Auf dem Schreibtisch liegen zwei Telefonnummern parat – die eines Scheidungsanwaltes für hoffnungslose Fälle und die eines Floristen, damit die Versöhnung leichter fällt.

Die Erzdiözese München und Freising schwärmt:

„EPL ist ein Kommunikationstraining für junge Paare. Ein partnerschaftliches Lernprogramm hilft die gemeinsame Basis im partnerschaftlichen Gespräch zu erweitern und in der gemeinsamen Konfliktlösung neue Wege zu entdecken. Viele Paare sagen nach einem EPL-Wochenende: ,Jetzt verstehe ich Dich richtig. – Ich kann mit Dir reden, auch wenn ich sauer bin! – Das wünsche ich mir in unserer Beziehung! – So stelle ich mir unsere erotische Beziehung vor!‘ Wir bieten Ihnen dazu Gesprächs- und Infoabende sowie Einführungsseminare mit Paargesprächen an.“

Hermann Messmer, prominenter Scheidungsanwalt, erklärt im „Spiegel“:

„Nach meiner Erfahrung ist der Mensch für die lebenslängliche Ehe eine Fehlkonstruktion. Sehen’S, die Scheidungsquote liegt irgendwo bei 50 Prozent. Aber da sind die Fassadenehen, Scheinehen und unglücklichen Ehen ja noch gar nicht eingerechnet – also etwa diejenigen, die wegen der Kinder, des Hauses oder des Geldes beieinander bleiben. In vielen Fällen ist die Ehe ein Millionengrab mit drastischen Folgen: zerbrochene Illusionen, verlorenes Kinderlachen, unsinnige Geldvernichtung, berufliche Misserfolge, psychische Krankheiten. Am Anfang macht die Liebe blind, und im Laufe der Ehe kommt die Sehkraft wieder.“

 

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Einmal machten sie eine Wochenendreise nach Paris. Hans Krohn lief dort den Stadtmarathon, in Tschernobyl explodierte das Kernkraftwerk, und die verseuchte Ost-Luft machte sich auf die Reise, um sich später in deutschen Pilzen und Rehen einzulagern. BRD-Kanzler Helmut Kohl reiste zu einem zweiwöchigen Besuch nach Indien, Thailand und Japan, davor mischte er sich noch schnell in Österreichs Wahlkampf ein – Tschernobyl nahm er erstmal nicht zur Kenntnis. Der FC Bayern München wurde auf den letzten Drücker noch Deutscher Fußballmeister.

Hans Krohn war nach dem Marathon sehr müde und wollte auf keinen Fall Sex. War ihr auch recht. Am Montag gingen sie shoppen. Auf allen Titelseiten stand „Tchernobyl“, es interessierte sie nicht. Krohn seinerseits hätte gerne nach dem Einkauf auf dem großen Bett Sachen gemacht. Doch sie erklärte, sie sei müde vom vielen Marschieren.

Dann schlief sie am hellen Tag ein. Er stahl sich aus dem Zimmer und trank französisches Bier.

Auf dem Rückflug hatten sie sich zwischen Paris und München nichts zu sagen.

Nein, stimmt nicht.

Nach dem Start organisierte er ihr eine Zeitung. Sie blätterte und las. Legte das Blatt weg.

Jetzt, so hoffte er, jetzt sei man dran mit Reden.

Sie blickte auf das Puppenland, über dem bald die unheimliche Ost-Luft wabern würde, und sagte:

„Die Sache mit diesem Tschernobyl (oder wie das heißt): schrecklich!“

Das war’s aber dann auch.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.