NEU? DEUTSCHLAND?

berlin, 25. april 2015

Ganz früher war hier mal ein Bahnhof, von dem die Züge nach Petersburg fuhren. Dann verlustierten sich pro Vorstellung im Plaza bis zu 3000 proletarische Zuschauer im Varieté “Plaza”. Im Krieg machten  Bomben das Gebäude am Küstriner Platz platt. Erst 1974 zogen Journalisten in ein staatstragendes Hochhaus ein. Heute sitzen die Zeitungsmacher wieder drin und stemmen sich gegen die Zeitläufte. Immer noch residiert hier die Redaktion des “Neuen Deutschland”. Und draußen, in einer kleinen Grünanlage, geht das real-soziale Leben seinen müden Gang.

Ein Mann sitzt auf einer Bank und studiert seine Zeitung. Er hat ein asketisches sauber rasiertes Gesicht, ernst und hoffnungsfrei. Neben sich eine Thermoskanne mit Kaffee und eine hellbraune lederne Handtasche. Sein Sakko ist in die Jahre gekommen, aber gut behandelt. Die Hose hat Bügelfalten, die schwarzen Schuhe sind gewienert.

“Kannst Frank zu mir sagen.”

Frank liest zuerst das Feuilleton. Danach arbeitet er sich von Seite eins (“Flotte der Verdammten”) gründlich durch bis zum Wochenendteil. Manchmal reißt er einen Artikel aus, faltet ihn und steckt ihn sorgsam in sein Täschchen.

Er ist ein professioneller Leser. Es ist sehr lange her, da hat er in diesem hohen Haus gearbeitet, da wurde er fürs Lesen und Schreiben bezahlt. “Ich habe alles gemacht – Kultur, Berlin und Brandenburg, Sport. Sport war mein Ding. Friedensfahrt. Wintersport. Spartakiade. Olympische Spiele. Ich habe es geliebt.”

Gleich nach der Wende haben sie ihn aussortiert. Dabei war er keiner von den Hardlinern. Aber er war nicht mehr jung genug für die neue Zeit. Für die Rente kam Frank auch noch nicht in Frage. Er hat sich durchgeschlagen. Versicherungen versuchte er an den Menschen zu bringen, da hat er versagt. Für einen  Autohändler aus dem Westen hat er das Schriftliche besorgt – das war schon besser, da konnte er sich hinter seinem Computer abducken.

’98 ist seine Frau gestorben. Die drei Kinder sieht er nicht mehr oft, die sind mit den Familien tief im Westen. Er wohnt noch immer im Kiez, von seinen zwei Zimmern bis zur Bank am Franz-Mehring-Platz hat er es zehn Minuten. Da sitzt er dann. Oder an der Weberwiese oder an der Frankfurter Allee. Liest seine Zeitung, denkt sich sein Teil.

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So sieht es aus, das Gebäude, in dem man den Blick fürs Große und Ganze nicht verlieren mag. FOTOS: BARBARA VOLKMER

Es war einmal ein wichtiger Platz hier. 1974 haben sie das Gebäude fürs “Neue Deutschland” eingeweiht. Da konnten sie den BRD-Angebern mit ihrem Springer-Hochhaus mal so richtig vor den Koffer kacken. Der Leiter der für die Presse zuständigen Abteilung Agitation und Propaganda im Zentralkomitee der SED, Werner Lamberz, hat sich bei der Eröffnung gar nicht mehr eingekriegt. Der Klotz in Friedrichshain sei der „größte und wichtigste Bau, den unsere Partei bisher errichtet hat.“

Nun kriegt das schöne Gebäude langsam die Motten. Nüchtern besehen ist die ganze Gegend ziemlich im Arsch. “Ich blende das aus”, sagt Frank und zeigt mit großer Gebärde über den Platz vorm “Neuen Deutschland”:

Ein Frührentner zieht das Bein nach und bleibt alle 20 Schritte stehen, um einen Schluck aus der Pulle zu nehmen. In der Stoff-Einkaufstasche hat er den Nachschub, Billig-Bier vom Discounter.

Eine junge Frau schiebt eine flotte Kinderkarre vor sich her. Sie telefoniert, raucht, sieht beschissen blass aus und kümmert sich nicht um das Gejammere aus dem Wagen.

Eine alte Frau kann nicht mehr. Sie lässt sich auf die Bank nebenan sinken und schnauft schwer. Es ist ein heißer Samstag, wenn die Sonne freie Bahn hat.

Die Fenster der Redaktion im zweiten Stock des Hochhauses sind seit Langem nicht mehr geputzt worden. Man könnte meinen, dahinter ruhe die Arbeit.

Ist aber nicht so. Sie bringen jeden Tag ein “Neues Deutschland” unter die Leute. Eine kleine couragierte Redaktion macht da ein ziemlich vitales Blatt und müht sich gegen den schlechten Ruf von früher an.

“Das machen die gar nicht schlecht.” Frank kauft manchmal auch andere seriöse Blätter und findet, dass sich die jungen Kollegen des “ND” nicht zu verstecken brauchten. “Die ham ihren eigenen Kopp – und das ist gut so.”

Wenn er da so zurück denkt…

Nun hat der Mann auf der Bank ein nettes Gesicht. Ach, man hat sich arrangiert.

Was sollte man schon machen?

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Auch heute noch ganz nah. Bis zum küssenden “Honi” an der Mauer sind es gerade mal zehn Minuten zu Fuß. Früher war der Spezi allgegenwärtig im “Neuen” Deutschland.

Auf den Tag vor 30 Jahren ist zum Beispiel der Honecker von einem Staatsbesuch in Italien zurück gekommen. Beim Papst ist er gewesen und bei allen wichtigen Leuten in Rom. Denen aus der BRD hat er mal richtig gezeigt, was eine Völkerverständigung ist. Und bei seiner Rückkehr haben sie im “Neuen Deutschland” auf einmal allesamt Italienisch gekonnt. Natürlich haben sie Wort für Wort abgedruckt, was Herr Honecker zu sagen hatte:

“Zum Abschluß meines offiziellen Besuches möchte ich dem Vorsitzenden des Ministerrates der Italienischen Republik, Bettino Craxi, und allen anderen Persönlichkeiten, die zum Erfolg unserer Gespräche in Rom beigetragen haben, herzlich danken. Dieser Dank gilt insbesondere auch Staatspräsident Sandro Pertini, mit dem ich ein fruchtbares Zusammentreffen hatte …”

Darauf einen bulgarischen Chianti!

Heute sind sie da oben in der Redaktion liberal und manchmal auch ein bisschen frech. “Das sind die Linken, die ich mir immer gewünscht habe.”

Jetzt müssen sie nur noch ihre Leserbriefschreiber an die Leine nehmen. Ein wenig jedenfalls. “Oder was sagst Du? Man muss doch nicht alles drucken, was die Übrig-Gebliebenen so von sich geben. Hör mal, hier zum Beispiel:”

Frank liest vor, wie sich ein Herr aus Sebnitz in der Zeitung auskotzt: “Die wieder einmal deutlich gewordene Rechtsprechung der alten BRD gegenüber Kriegsverbrechern und Beteiligten an Massenmorden lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Dieser Staat war ein Unrechtsstaat.”

In diesem Tonfall geht das dann weiter. Frank legt die Zeitung, seine Zeitung, zur Seite. “Das mag ja alles nicht besonders blühend sein hier alles, da hat der Kohl sich vertan. Aber es ist nun mal, wie es ist. Gestern ist gestern – gut so. Ist ja schon mal ein Anfang.”

Drüben müht sich die alte Frau auf die Beine. Seufzend schlurft sie weg. Sie muss weiter.

Irgendwie muss es ja weiter gehen.