MUT

würzburg, 31. dezember 2016    —   Franziska Liebhardt sagt, sie habe ein gutes Jahr gehabt. Die Frau ist sterbenskrank und hat ständig Schmerzen. Wenn es zu schlimm wird, sieht sie das Video von ihrem Sieg in Rio an. Dann erinnert sie sich an das „große Glück, das ich da erleben durfte“ und kann besser gegen die Schmerzen ankämpfen.

Das Video läuft an:

Steffi Nerius, die Erfolgstrainerin, kann nicht still sitzen. Sie springt immer wieder von ihrem Platz in der Nähe der Kugelstoß-Anlage hoch, gestikuliert, formuliert knappe laute Instruktionen. Sie imitiert – dabei bekommt sie einen ziemlich lebhaften Teint, denn es ist unerwartet warm im Stadion – den Bewegungsablauf, den sie sehen will.

Unten auf dem Rasen – das sind Luftlinie nicht mal 20 Meter – steht die Athletin und versucht, sich alles zu merken. Mal ganz ehrlich: Wer der Athletin ins Gesicht sieht, erkennt da eine Sportlerin, die an sich halten muss, um nicht vor Freude im Viereck zu springen

Franziska Liebhardt, 34, hat die Kugel im ersten Versuch  13,96 Meter weit fliegen lassen.

So war es geplant, das war die Taktik der Trainerin, die selbst als Aktive wegen ihrer mentalen Stärke von den Konkurrentinnen gefürchtet wurde.

Die Gold-Aspirantin im Wettkampf der Franziska Liebhardt heißt Mi Na, kommt aus China – und könnte mit ihrer Mimik sofort an einem knallharten Poker-Turnier teilnehmen. Die Frau lächelt nicht, sie verzieht auch nach miesen Versuchen keine Miene. Gegen diese Mi Na hat Liebhardt noch nie gewonnen. Warum gerade jetzt?

„Ich wollte von Anfang an die Chinesin unter Druck setzen. Das ist gelungen, glaube ich. Nach meinem ersten Stoß hat sie gewackelt und sich nie mehr richtig gefangen. Es war kein wirklich schöner Wettkampf. Aber es wurde immer wahrer und immer wahrer.“

Erfolg ist bei Franziska Liebhardt eine Sache des Kopfes. Sie hat hart am Erfolgs-Denken gearbeitet – und das hört sich nun so simpel an. „Leben“, schreibt sie über sich, „ist gar nicht schwer. Man muss einfach immer einmal mehr aufstehen als man umgeworfen wird!“

Das sagt eine, die ihren Zustand als „lebensbejahend und fröhlich“ beschreibt. Dann lächelt sie die Journalisten an. „Sie wollen etwas über meine Behinderung wissen? Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die Diagnosen: systemische Autoimmunerkrankung mit Multiorganbefall. Lungen- und Nierentransplantation, spastische Hemiparese rechts. Ich nehme am Tag 30 Tabletten, sonst könnte ich nicht leben. So isses.“ 

So lakonisch bleibt niemand, der Franziska kennen lernt. Selbst die nüchternen Berichterstatter der dpa bekommen ihre Gefühle kaum unter Kontrolle: „Franziska Liebhardt ist sterbenskrank. Eine Autoimmunerkrankung zerstört ihre Organe. Die frühere Volleyballerin kämpfte sich dank des Sports wieder zurück ins Leben, nachdem sie sich 2009 wegen eines Lungenversagens davon schon innerlich verabschiedet hatte. Nach ersten Erfolgen bei der EM und der WM der Organtransplantierten wechselte sie 2014 nach Leverkusen. Seither ging es bergauf. EM-Titel, WM-Zweite, erster Weltrekord in der paralympischen Leichtathletik.“

Franziska Liebhardt gewinnt das Kugelstoßen in Rio. Sie posiert mit der deutschen Fahne neben der Anzeigetafel und kurz darauf auf dem Siegerpodest für die Fotografen, dann hat sie Zeit für Fragen. Sie strahlt, redet ausgesucht klug und hat wenig Zeit für Worthülsen. „Ich bin total durch den Wind, ich kann es noch gar nicht so richtig glauben. Ich habe mich unter Steffi super entwickelt, die Medaille geht auch zu einem großen Prozentsatz an sie.“

Die Gold-Franziska redet über Willensstärke, Lebensmut, Lust an einem gelungenen Tag, den Sport, ihre Familie daheim, Hunde, Politik, Film…

Sie sagt, sie habe „die Familie zurück gelassen, ich habe meine Arbeit aufgegeben, ich habe für eine Zeit alles im Leben verändert, weil ich den Erfolg in Rio wollte. Das war volles Risiko, mehr Investment in die Zukunft ging nicht. Ich habe volle Pulle auf Rio hin gelebt. Ach, ich bin so glücklich, dass die Rechnung aufgegangen ist. Ich weiß gar nicht, wie ich Steffi danken soll.“

Die Trainerin ihrerseits erklärt, das Gold sei Dank genug. Die Norddeutsche ist in Bergen auf Rügen geboren und im Rostocker Internat in den Sport und ins Speerwerfen hinein gewachsen. Silber bei Olympia hat sie gewonnen. Europameisterin war sie. Weltmeisterin auch. 2009 ist Nerius zur „Sportlerin des Jahres“ gewählt worden.

Nun arbeitet sie nüchtern und ohne Umwege für den großen Erfolg ihrer Athleten. Wenn sie etwas sagt, hat das einen Sinn. Sie mag kein Gelaber, sie vergeudet keine Zeit – und nach dem Sieg lässt sie die Sau raus.

Eine gute Frau für den Sport.

An dem Tag, an dem die Athletin Liebhardt Gold gewinnt,  schaut die coole Steffi hinunter zu ihrer Franziska im schwarz-rot-goldenen Fahnen-Cape und ist sehr gerührt.

Was für eine bewundernswerte Frau diese Franziska Liebhardt doch ist.

Im April dieses Jahres hielt die Sportlerin im Frankfurter Hotel Lindner bei der Verleihung des Helmut-Werner-Preises die Laudatio auf den Heidelberger Transplantationsmediziner Professor Dr. Burkhard Tönshoff. Die Auszeichnung wird von der Kinderhilfe Organtransplantation (KiO) an Menschen vergeben, die sich in besonderem Maße um die Belange von Kindern und Jugendlichen vor oder nach einer Transplantation verdient gemacht haben.

Die Sportlerin erzählte von den schlimmsten Momenten ihres Leben: „Ich habe mich damals entschieden, um mein Leben zu kämpfen und bin heute froh, dass ich es gemacht habe.“ Sie sagte, und es war mucksmäuschenstill im Saal: „Immer wenn ich höre, es geht nicht, denke ich: Jetzt erst recht.”

Nun ist Schluss mit dem Leistungssport. Es geht nicht mehr. “Die Kugel fällt zu früh runter.” Nun sieht sie das Video an und holt sich Kraft aus dem Glück von Rio. Franziska Liebhardt lächelt. “Wenn ich etwas gelernt habe, dann ist es das Kämpfen. Gut so!”