FIRST KISS

„2017”*, Folge 63, 19. November. “Durchs Land”/V.

 

München, Du Schöne:

Die „Bayern“ haben schon wieder gewonnen. Bald machen die Christkindlmärkte auf, dann wird’s noch gemütlicher in der Stadt. Mitte der Woche wird es nicht mehr regnen, und wärmer soll es auch noch mal werden. Im „Kultur-Herbst“ weiß man gar nicht, wohin man zuerst gehen soll.

München, das ist auch der Tierpark Hellabrunn mit seiner neuesten Attraktion:

Dort trippeln die drei putzigen Keiler Robi, Rily und Rembrand Trappeltritt auf Trappeltritt Mama Mathilda hinterher. Ihnen folgen auf den Paarhufen die Pinselohr-Sau Marie mit den Zwillingen Rusty und Ronja. Erzeuger ist der nimmermüde Leopold – dem ist freilich die Nachkommenschaft wurscht. Er sieht sich nach weiteren Amouren auf der Außenanlage um.

München, diesmal anders. Der neue Armutsbericht ist da.

2011 waren noch 14,7 Prozent der Münchner arm – nun sind es 17,4 Prozent. Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Münchner Nettoeinkommens verfügt. Die Schwelle liegt in München beim Single-Haushalt bei 1350 Euro, bei zwei Personen sind es 2025 Euro. Kommt noch ein Kind unter 14 Jahren hinzu, liegt die Schwelle bei 2430 Euro.

Sechs Prozent der jungen Menschen in München verlassen die Schule ohne Abschluss. Bei den ausländischen Schülern sind es sogar 11,2 Prozent. 60 Prozent der Menschen, die von Hartz IV leben, haben keinen Berufsabschluss oder zumindest keinen in Deutschland anerkannten Abschluss.

7300 Menschen haben kein Dach über dem Kopf, darunter fast 1600 Kinder. 8200 Haushalte stehen im Wohnungsamt auf der Liste derer, die am dringendsten eine Wohnung brauchen, doch nur 2800 Wohnungen konnten im vergangenen Jahr von der Stadt vergeben werden.

Martin Glaab, Sprecher der Benediktinerabtei St. Bonifaz, ist am Resignieren: „Unsere Abtei versorgt in der hauseigenen Praxis Obdachlose. Die Bilder, denen unsere Ärzte ausgesetzt sind, sind furchtbar. Offene Wunden gehören zum Alltag. 4700 Menschen wurden 2016 behandelt, vor allem wegen innerer Krankheiten. Die Hälfte unserer Patienten hat überhaupt keine Krankenversicherung und ist obdachlos. Und es wird schlimmer.“

 

Als der Vater mit dem Rad auf den Dörfern die Post ausfuhr, karrten in den Städten die Trümmerfrauen noch Schutt von den Grundstücken, auf denen neuer Wohlstand entstehen würde. Im Allgäu war man da schon weiter.

Die Bauern feierten zufriedenen Erntedank, ein paar schafften sich neue moderne Maschinen an, in der Kreisstadt machte ein kleines „Kaufhaus“ auf. Im Sommer kamen mehr und mehr Sommerfrischler.

Post gab es immer – und wenn Sebastian sich nichts zuschulden kommen lassen würde, wäre er bald Beamter und könnte die Jahre verplanen.

Er machte sich darüber jedoch keine Gedanken. Krohn fühlte sich prächtig. Morgens verließ er die Kleinhäusler-Wohnung, nachdem er den jüngeren Geschwistern das Frühstück auf den Tisch gestellt hatte. Er sortierte im Postamt die Briefe und Päckchen in die Tasche und radelte los.

Eine große Kraft hatte er – obwohl er so dünn war. Waden wie Storchenbeine, eine Brust wie ein Huhn, die Rippen zum Zählen. Aber er war ein schmucker Bursch, weil er mit dem ganzen Gesicht lachen konnte und eine große Offenheit hatte, die den Einheimischen abging. Die waren verdruckst und misstrauisch gegen alles Neue.

Sebastian Krohn konnte es mit den Frauen. Gelenkig war er wie ein Turner, im Winter spielte er im Eishockeyverein. Er raufte nicht gerne, dafür konnte er rückwärts übersetzen, das gelang den meisten Kollegen nicht. Und er hatte ein paar Sprünge der Kunstläufer im Repertoire, damit punktete er immer.

Am Sonntag nach dem Spiel traf sich die Landjugend im Eisstadion zum freien Lauf. Sebastian hatte sich gewaschen und die Haare nach hinten frisiert. Er trug jetzt die Jeans und die schwarze Lederjacke, die er sich vom ersten Gesparten gekauft hatte.

So zog er in der untergehenden Sonne seine Kringel aufs Eis und streute ab und zu einen kleinen Sprung ein, immer in Eves Nähe.

Denn Eve, die sollte es sein.

Sie hatte Zöpfe, rötlich-blond, ein paar niedliche Sommersprossen, ganz furchtbar sportlich war sie – man sagte, sie würde beim Skifahren mal Deutsche Meisterin -, sie lachte die meiste Zeit, andächtig hörte sie zu, wenn Sebastian etwas sagte.

Und sie mochte wohl, wenn er nah an ihr vorbei fuhr, vielleicht gar noch rückwärts mit Übersetzen, und dabei so tat, als sei das die einfachste Übung von der Welt.

Mehr als seine Sprünge vorzuführen oder kluge Sprüche zu klopfen traute er sich freilich nicht.

Die Saison ging zu Ende, bald würde es tauen, und man würde im Eisstadion für lange Zeit die letzten Runden drehen.

Da glitt Eve auf ihn zu und sagte – ohne Vorwarnung und mit Stimme einer Geschäftsfrau, die einen Handel voran treiben will:

„Wenn Du eine Brücke kannst und aufstehst, ohne dass Du die Hände brauchst – dann kriegst Du einen Kuss von mir.“

Eine Brücke geht so: Der Turner bewegt sich ins extreme Hohlkreuz. Sehr sacht und unter Schmerzen senkt er den Kopf nach hinten, solange, bis hinter ihm die Hände den Boden berühren.

Das ist etwas für Schlangenmenschen und nicht für Bauernklöfel vom Land.

Dann wieder in den Stand, ohne die Hilfestellung Anderer oder die Zuhilfenahme der Hände:

Das ist etwas für Körper-Könner.

Sebastian Krohn sah Eve in die grünen Augen:

„Echt? Einen Kuss?“

„Ja. Versprochen.“

Er hat ihn bekommen, den Kuss. Zuerst, weil es in der Öffentlichkeit war, einen Schmatz auf die Lippen.

Später, da guckte keiner zu, weil man sich in einen Schuppen verdrückt hatte, bekam er einen richtigen Kuss.

Er radelte nach Hause, es war dunkel und eisekalt. Sebastian hatte das Hemd und die Lederjacke offen, er spürte nicht, dass die Riemen des alten Rucksacks in die Schultern schnitten.

Er war im Rausch.

Achso: Getrunken hat er damals nicht. Er mochte kein Bier.

Es war die beste Zeit seines Lebens.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.