ENDE VOM LIED

„2017”*, Folge 84, 10. Dezember. “Durchs Land”/XXV.

 

Kaulsdorf. Merde! Ein Tag für die Tonne!

Schneegestöber. Nass bis in die Socken, eisekalt bis unter die Haut. Noch zwei Stunden bis Saalfeld. Und jetzt hat hängt an der Tür des einsamen Gasthauses auch noch ein Schild:

„Geschlossene Gesellschaft – bitte haben Sie Verständnis!

Drinnen grölen Männer. Brüllen – so sie denn können – ein Lied von „Gigi & den Stadtmusikanten“ mit.

Vom Eismeer bis zum Kaukasus,

trotz Hunger, Kälte und Beschuss,

ruhmreich kämpfte der deutsche Frontsoldat.

 

Skorzeny, Peiper und Degrelle,

Sepp Dietrich, Eggers, Manteuffel

sind Namen für so manche Heldentat.

 

Wann wird’s in Deutschland wieder Sommer?

Ein Deutschland wie es früher einmal war.

Ohne Besatzer und Vaterlandsverräter,

nicht so erbärmlich wie die letzten 50 Jahr’.

 

Das Lied geht noch weiter. Krohn geht auch schnell weiter. Er stülpt sich wieder die Kopfhörer auf die Ohren. Er hört Johnny Hallyday, seit Stunden schon. Der schreit seine Sehnsucht, seine Trauer, seinen Zorn, sein Liebe in den Thüringer Wald.

Quoi, ma gueule ?
Mais qu’est-ce qu’elle a ma gueule ?
Quoi, ma gueule ?
Qu’est ce qu’elle a ma gueule ?

 

Gestern hat er seinen Staatsakt bekommen, der Johnny Hallyday. Hans Krohn hat feuchte Augen – wahrscheinlich wegen des strengen Schneewinds.

Schritt für Schritt weg von den Rechten. Aber das sentimentale Erinnern lässt er heute nicht mehr hinter sich. Da kann er laufen, solange er will.

Merde!

 

xxx

 

Einmal – er wohnte in Paris, war gerade 20, lebte von Gelegenheitsjobs, war oft glücklich und wollte fotografieren wie Cartier-Bresson – hat Hans Krohn seinen Vater im „Ritz“ getroffen.

Versteht sich, der Alte tat es nicht unterm „Ritz“. Saß beim Frühstück, ausm Ei gepellt, die Schuhe fremdgewichst, fremdgeschabt im Gesicht, roch nach eau de rasage von Guérlain.

„Wie geht’s?“

So hätte er auch einen Wildfremden fragen können.

Gut, sagte der Sohn und wollte zeigen, was er so machte in dieser aufregenden Stadt. Zeigte Schwarzweiß-Aufnahmen:

Aus der Nacht. Von der Rennbahn. Aus den Betten der Dirnen der Rue Saint Denis. Aus den Katakomben. Aus den Umkleiden des „Moulin Rouge“. Aus den Logen der Opéra. Aus…

Der Vater – Sebastian Krohn, der berühmte Architekt, der Star, der Ästhet – legte die Fotografien auf einen leeren Stuhl.

„Brauch‘ nicht mehr zu sehen. Vielleicht solltest Du nochmal nachdenken, ob die Knipserei Dein Ding ist. Ich glaube: Eher nicht!“

Er tupfte sich mit der blitzeweißen Serviette den Mund ab.

„Iss doch was. Das kriegst Du sicher nicht alle Tage. Ich muss weg. Termine. Sorry.“

Hans Krohn sammelte die Bilder vom Stuhl und verließ ungegessen das „Ritz“.

Er hat erst einmal zwei Monate nicht fotografiert. Und auch dann war es nicht mehr wie zuvor.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.