DUNKLER RUHM

sommer zwanzichfuffzehn XXXVII

“Weiter”, forderte Sabrina. “Erzähle weiter. Hast Du diese Romina gekannt?”

“Nein. Ich bin mit ihren Liedern groß geworden. Manchmal waren sie ganz hilfreich.”

“Wie meinst Du das?”

Naja, als ich so 18, 20 24 war, hat es in der Disco geholfen. Sie hat ein paar Lieder gehabt, die bei den Frauen gut ankamen.”

“Zum Tanzen, oder wie?”

“Nee, nicht so direkt. Romina hat von Träumen gesungen und von Liebe und so. Und die Frauen in der Disco haben dann wohl so eine Sehnsucht gehabt.”

“Du stotterst ja. Hans, das ist lange her. Du musst Dich nicht schämen.

“Tu ich nicht, tu ich nicht. Ich erzähle weiter, ja?”

Mach das.” Sie lächelte.

 

Romina konnte keinen Fuß vor die Tür setzen, ohne umlagert zu werden. Udo hatte einen geräumigen Mercedes mit getönten Scheiben gekauft, den seine Schwester in der Garage bestieg. Sie pendelte zwischen Studio und dem neuen Zuhause am Schlachtensee. Im Kempinski hatten die Krawittkes einen eigenen Tisch in der hinteren Ecke der Bar. Dort wurden auch die neuen Geschäfte eingefädelt.

Viele wollten etwas von der Frau, die scheinbar ohne Pausen auskam. Viele wussten auch, dass sie ein gefährliches Spiel mit Tabletten und Pülverchen spielte. Aber das taten Andere in der Branche auch. Solange Romina funktionierte, war doch egal, wie sie es hin bekam.

Sie bekam, was sie wollte – wenn sie nur sang. Manchmal hatte sie Lust auf einen Mann, dann fand sich schon einer aus der Tanzgruppe. Die Affären dauerten eine Nacht, dann war Romina alles zuviel. „Ich muss jetzt arbeiten“, sagte sie. „Ausruhen kann ich mich später.“

Udo und seine Schwester bewohnten eine Villa am Schlachtensee. Die Miete war sündhaft, doch das störte nicht. Romina genoss den Rückzugsort. Morgens vor sechs ging sie mit ihrem Hund, einer divenhaften weißen Pudeldame, spazieren – eine junge Frau mit unendlich müden Augen, ungeschminkt, mit ersten traurigen Fältchen an den Mundwinkeln.

Um diese Tageszeit war sie das echte Fräulein Krawittke. Ihr Schritt hatte nichts Kraftvolles, bedrückt sah sie der Sonne beim Aufgehen zu. Manchmal begegnete sie einem Nachbarn und setzte eilfertig ein Lächeln auf. Auch Götz George, der Schauspieler, ging hier seiner Wege, wenn er im Lande war. Auch er sah gehetzt und benutzt aus. Man blickte einander ins Gesicht und wusste um die Not des Anderen.

Während also Romina mit „Claire“ unterwegs war, bereitete Udo das Frühstück. „Wir brauchen in der Küche niemanden“, hatte er gesagt. „Ich mache das alles.“ Er schälte Gurken, viertelte Tomaten, brühte den Kaffee, deckte den Tisch und legte auf Rominas Deckchen die Tageszeitungen – obenauf die „Bild“, nachdem er sie durchgeblättert hatte (schlechte Presse hielt Udo von seiner Schwester fern). Er blickte aus dem Fenster im Erker, von wo aus er den Weg um den See überblicken konnte. Da hinten kam sie mit dem Hund. Udo schlug zwei Eier in die Pfanne, legte die Speckstreifen dazu.

Er hörte die Geräusche im Flur. „Frühstück ist schon fertig“, rief er.

„Komme“, war zu hören. Romina erschien im Türstock zum Esszimmer. Sie sah mit ihrem ungemachten Gesicht verletzlich aus, keine Spur von Glamour.

Sie blickte auf den gedeckten Tisch, lächelte. „Schön.“ Romina küsste ihren Bruder auf die Stirn. „Mann, hab’ ich einen Hunger. Weißte, wen ich gesehen habe?

„Nee. Sag’!“

„Den Götz. Der ist wieder mal im Lande. Der ist ja sonst dauern irgendwo am Drehen. Du, der macht echt Karriere, hättste das gedacht?“

„Naja, bei dem liegt es im Blut. Gut aussehen tut er ja.“

„Kannste sagen. Ich hab’ gelesen, die in Hollywood sind interessiert.“

„Hmm. Hat er Dich erkannt?“

„Schon. Aber wir haben nicht viel geredet. Weißt ja, dass sich Claire und sein Köter nicht ausstehen können.“

„Ist das Ei okay?“

„Wunderbar, Udo, perfekt. Was fragste überhaupt? Ist doch immer alles perfekt.“

„Was machste heute?“

„Werd’ gleich abgeholt. Volles Programm. Mittagessen mit so nem Heini von der Zeitung. Nachmittags muss ich ins Studio. Mit den Aufnahmen von gestern ist irgendwas noch nicht ganz in Ordnung. Na, wir werden ja sehen.“

„Kommste zum Abendessen?“

„Ich glaube nicht. Brauchst nix zu machen. Kann spät werden.“

„Du weißt, dass wir morgen Früh ’nen Flieger haben.“

„Ach, gut, dass Du mich erinnerst. Hätt’ ich fast vergessen. München, wa?“

„Ja. Aufzeichnung vom ,Hithaus’. Du glaubst gar nicht, wie’s mir graust.“

„Du meinst, wegen dem Backhaus.“

„Klar, der kann einfach seine Hände nicht bei sich behalten. Der wird wieder grabschen, ich würde ihm am liebsten eine schallern.“

Aber Romina wusste, dass sie nicht ausrasten durfte. Sie war froh, wenn ihr Bruder sie begleitete. Der hatte etwas Beruhigendes. Bevor Situationen eskalierten, schritt Udo ein.

„Mach’ Dir mal keine Sorgen“, sagte er. „Das kriegen wir hin. Wo wohnen wir eigentlich?“

„Bayerischer Hof, glaube ich.“

„Siehste – wenigstens beim Hotel ist der Backhaus anständig.“

Romina sah ihren Bruder nachdenklich an. „Wenn Du wüsstest.“

 

Udo Krawittke beschützte Romina, er schottete sie ab. Das brauchte sie. Immer öfter. Er kannte das: Die dunklen Tage begannen ganz normal. Doch schon, wenn Romina vom Spaziergang zurück kam, wusste Udo, dass es wieder einmal soweit war. Sie zog die Haustür leise hinter sich zu, redete kein Wort mit dem Hund. Udo hörte, dass die Schritte aus dem Flur die Kellertreppe hinunter gingen.

Er folgte Romina. Sie legte einen ihrer Filme ein. Elvis Presley als zorniger junger Mann, James Dean auf Sinnsuche, die düstere Marlene Dietrich, ,Casablanca’ oder  ,Boulevard der Dämmerung’ oder ,Sie küssten und sie schlugen ihn’.

„Muss das sein?“, fragte Udo.

„Ach, mein Großer“, meinte Romina. „Du weißt doch, wie es ist. Sag’ doch bitte alles ab, bist Du so lieb.“

Er seufzte, wollte wissen, ob sie etwas zum Frühstück haben wollte. Ein Kaffee wäre prima, sagte sie und startete den Film.

Manchmal dauerten die Sitzungen mehrere Tage. Romina aß kaum, nickte ab und zu ein, schreckte spätestens wieder hoch, wenn die leer laufende Rolle das Ende des Filmstreifens gegen den Projektor pladderte. Dann legte sie die nächste Spule ein. Sie vergrub sich tief in ihrer Lieblingsdecke, sagte kein Wort, hatte ein unbewegtes Gesicht. Nein, sie würde nicht reden und sie würde niemandem zuhören. Man musste sie einfach lassen. Irgendwann stand sie auf, faltete die Decke zusammen, schaltete den Apparat aus, stieg die Treppen hinauf, nahm ein langes Schaumbad, kam in die Küche und sagte: „Mann, hab’ ich ’nen Kohldampf.“

Danach fuhren sie zum KadeWe und kauften für Romina ein Auto voller schöner Sachen.

Dann war sie wieder die Romina für die Massen.

In Berlin war sie der Liebling der Menschen, im Land der Star – und im Ausland fanden die Leute das nette „Frollein“ zum Anbeißen. Gerade die Amis standen auf dieses deutsche Girl mit den schwarzen Haaren. Romina wurde eingeladen, sie gastierte in Vegas. Eine Berliner Göre in Las Vegas – war das noch zu toppen.

Staunend stolperte Udo neben seiner Schwester durch die fremde Glitzerwelt. Er ließ sich von Romina überreden, sich ein paar neue Anzüge zuzulegen. Nichts Gedecktes, ein bisschen geckenhaft eher. Das passte nicht ganz zu ihm, und er fühlte sich auch nicht sonderlich wohl – aber die Schwester wollte es so haben, dann fügte er sich eben.

 

In Las Vegas verlor Udo die Kontrolle über Rominas Leben. Er verkroch sich nach ihren Auftritten im Hotelzimmer, während sie von Party zu Party zog. Sie lernte Cary Grant kennen, der ihr – meinte er das ernst? – einen Antrag machte. Sie empfing in der Garderobe einen aufgekratzten Elvis, der mal schnell nach seiner Show im „International“ rüber schaute.

Die Kerle rissen sich um Romina. Warum fiel sie gerade auf diesen Mike herein?

Dem stand die Schlechtigkeit im Gesicht. Zugegeben, er war ein auffällig gut aussehender Mann. Aber er hatte verschlagene Augen, ein unfrohes Lachen – und er war geizig. Eigentlich kein Typ für Romina.

Irgendwie schaffte er es aber, den Star aus Deutschland einzuwickeln. Udo, in seinem Hotelzimmer, bemerkte in dieser Nacht nicht, dass ihm seine Schwester abhanden kam.

 

Das nächste Rennen war vorbei. Udo Krawittke haderte mit sich: Da gewann er schon mal einen richtigen Batzen Geld. Doch anstatt sich zu freuen, kramte er in der Vergangenheit rum und überließ sich unfrohen Gedanken.

Das passierte ihm oft. Er erinnerte sich an die glamourösen Zeiten seines Lebens. An den „Bayerischen Hof“. Die Villa am Schlachtensee. Das Reisen in der Ersten Klasse.

Es hatte ihm an nichts gefehlt. Dass er keine Frau ab bekam, war ihm egal gewesen. Er hat Frauen immer als schwierig empfunden. Nee, er war nicht schwul, bewahre! Er hatte nur keine Lust auf Komplikationen. Es war doch alles so angenehm geregelt gewesen. Seine Schwester im Rampenlicht, er im Hintergrund, die buckelnden Direktoren von der Bank.

Es hätte ewig so weiter gehen können.

Tat es aber nicht.