DER STURM

berlin, 12. januar 2015

Am Forstamt Grunewald absolviert eine aparte Dame anspruchsvolle Dehnübungen und ist mit sich, dem Wald und dem Sturm, der übers Land geht, eins. „Ist doch ein wunderbarer Morgen. Keiner unterwegs, die haben alle Schiss, dass ihnen ein Ast aufn Kopp fällt.“ Sie aber will keine Angst haben. Sie mag es, wenn ihr ab und zu der Wind ins Gesicht geht.

Biegsam sein ist alles! Ulrike verwringt den Körper gekonnt, dafür muss sie sich am Staketenzaun vor dem Forsthaus Grunewald abstützen. In den Wipfeln der hohen Kiefern tost der Sturm. Der Wald verneigt sich. Biegsam sein ist alles.

Das Sturmtief „Felix“ hat es echt in sich. Legt am Wochenende nahezu den kompletten S-Bahn-Verkehr im gesamten Stadtgebiet lahm. Unzählige Bäume sind auf die Gleise gestürzt, haben Oberleitungen und Züge zerstört. Es gibt Verspätungen und Zugausfälle im S-Bahn- und Regionalbahnverkehr. Die Linien S25, S45, S46 und S47 fahren nur auf bestimmten Abschnitten und in größeren Zeitabständen. Der Regionalbahnverkehr der Linien RE1 und RE7 ist unterbrochen.

Da verzichten eben viele Jogger auf den Sport.

„Ich war verabredet“, erzählt Ulrike, „aber mein Freund hat abgesagt. Sturm und Regen, das ist nicht seins.

Also hat sie solo eine große Runde gedreht. Sie hat staunend auf den Wannsee geblickt, wo sich die Wellen mit weißem Schaum kabbelten. Sie hat sich auf dem Hinweg gegen den Wind voran gekämpft, nach dem Umkehren schob das Wetter sie an. Es war ein wunderbares Gefühl, „Felix“ im Rücken zu haben.

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Nur nicht aufhalten lassen! Ein Biker im sturmgezausten Grunewald macht’s vor. FOTOS: DETLEF VETTEN

 

Dehnen beendet. Nun joggt Ulrike – eine aparte 45-Jährige mit roten Wangen und einem klaren Blick – im immer noch strammen Tempo in Richtung Teufelssee. Einmal muss sie über eine umgestürzte Kiefer klettern, bleibt danach sinnierend stehen.

„Ich brauche das“, sagt sie. „Diese Zeit am Sonntagmorgen für mich. Das ist der perfekte Auftakt für den schönsten Tag der der Woche.“

Nachmittags macht sie, wenn möglich, auf Kultur. Ein Besuch im Museum, ein Boulevard-Bummel und dann ins Kino, ein Konzert am Abend. Das passende Kontrastprogramm für eine erfolgreiche Geschäftsfrau.

Heute lässt sie Kultur Kultur sein. Gegen drei Uhr wird sie zum Brandenburger Tor fahren. Dort wird demonstriert – wegen der Morde in Paris. Ulrike hat sich einen „Je-suis-Charlie“-Button besorgt, den wird sie an den Mantel heften.

„Das muss ein“, erklärt sie.

Jetzt aber schnell, sie forciert das Tempo. Sie muss nach Hause, sich fertig machen für die Demo. Warm gelaufen hat sie sich ja schon. Also, auf in den nächsten Sturm!