DÉJÀ-VU

„2017”*, Folge 67, 23. November. “Durchs Land”/IX.

 

München. Passiert ja nicht aller Tage, so etwas:

Du bist auf einmal nicht mehr Herr Deiner Gedanken. Wirst überrannt von Erinnerungen. Déjà-vu, dèjà-vu, déjà-vu. Du erinnerst Dich, aber Du kannst nichts festhalten.

Es ist wie das Wort, das einem „auf der Zunge liegt“ (so sagt man wohl, oder nicht?).

Hans Krohn sitzt unter einer historischen Fotografie aus dem k.u.k. Brünn an einem blonden melaminharzbeschichteten Tisch und kennt sich nicht aus. Die Marillenknödel und der Kaffee werden kalt, weil er in tiefes ergebnisloses Nachdenken versinkt.

Was ist ihm hier so vertraut?

Was sucht er hier im „Brünner Eck“?

Warum kann er sich nichts anderes vorstellen als hier zu sitzen? Warum gehört er hierher, an diesem Nachmittag, nach diesem Spaziergang, während er sich doch an die jungen Jahre seines Vaters erinnern wollte?

Jetzt hockt er im „Brünner Eck“ und überlässt sich dem, was da kommt.

Im Fernsehen spielen sie Eishockey. Kometa Brünn gegen Dynamo Pardubice. Zwei Männer am Tresen lassen das Match nicht aus den Augen.

Der dicke Wirt studiert den „Blesk“. Seine Frau, eine blasse schlanke Schönheit, zapft Bier, wienert Gläser und hat sehr traurige Augen. Das Blondhaar hat sie zum züchtigen Pferdeschanz gebündelt. Sehr müde sieht sie aus, ohne große Hoffnung, uninteressiert an ihrem Mann, den Gästen, dem Fernsehen. Sie hat allenfalls noch Hinwendung an die bauchigen Pilsner-Gläser.

An einem Tisch in der Ecke sitzen zwei alte Münchnerinnen, süffeln Likör und schimpfen auf die Lebkuchen-Preise beim Lidl. Die Rede kommt auf eine Nachbarin, die sich – keiner weiß, wie – das Überwintern auf Mallorca leisten kann. Die Likör-Damen platzen vor Neid.

Der Daddelautomat wird von einem Kerl im Blaumann gefüttert und fiept. Mehr! Mehr!

Brünn kassiert ein Tor, führt nur noch mit 3:1. Die Männer am Tresen seufzen, der Wirt schaut von seiner Zeitung auf und sagt ins Leere: „Machen sie wieder Scheiß. Sie machen immer Scheiß. Man kann nicht hingucken.“

Draußen dämmert es. Krohn schiebt die Spitzengardine zur Seite und blickt auf die Fasaneriestraße. Sie ist schmal und zugeparkt. Hier fahren nur Autos von Anrainern, die Passanten beeilen sich, nach Hause zu kommen. Es ist keine Straße, in der sich die Menschen wohl fühlen.

Auch er hat sich nicht wohl gefühlt, seinerzeit.

Seinerzeit.

Alles ist wieder da.

Er kann sich selbst sehen.

 

Jung. Volles Haar. Mit seinen Schritten erobert er die Welt, wie er da aus der Stadt kommt. Ein schmaler junger Mann, der den schweren Fotorucksack leicht schultert und nun “heim” kommt. Er lutscht ein Bonbon, das macht den Atem sympathisch.

“Heim”.

Ein Wort, das er bislang nicht verstanden hat.

Spät ist es geworden. Nun wird er noch ein paar Schritte gehen. Dann dreht er den Hausschlüssel, steigt die knarzende Treppe (fast jede Stufe ächzt, wenn sie benutzt wird) hoch, im zweiten Stock dreht er den Schlüssel in der Wohnungstür.

Schließt die Tür hinter sich, stellt den Rucksack ab, hängt die Jacke an den Haken.

Er hört sie rufen.

“Hans, bist Du’s?”

Es geht nicht um die Wörter. Sie will auch keine Antwort. Sie will, dass er zu ihr kommt. Sie ist wie ein Vögelchen im Nest, das piept, weil es piepen muss.

Er hat eine große Sehnsucht. Seine Schritte werden leise und zart. Er geht in ihr Wohnzimmer. Der Fernseher läuft. “Denver Clan”.

Sie schaltet aus. Braucht kein Fernsehen. Will ihn. Sie trägt einen pastellfarbenen Hausanzug, die Brustwarzen sind steif.

Sie zieht ihn auf die Couch.

Er ist gierig,

 

Hans Krohn schiebt die Gardine wieder zu. Er schlägt sein Notizbuch auf und schreibt, in Hast und kaum leserlich:

Es ist Zeit.

Dämonen austreiben.

Leben neu machen.

Reboot!

Raus aus dem Leben:

Raus, Vater!

Raus, Mutter!

Raus, Alk!.

Raus, Du Frau, mit der ich mich getäuscht habe.

Raus! Raus! Raus!

REBOOT!

Hans Krohn legt den Stift weg. Er hat einen Plan.

Männliche Miene.

Jetzt wird aufgeräumt!

Ach, übrigens: Jetzt steht’s 3:3. In der Tat bauen sie wieder Scheiße, die Kameraden in Brünn.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.