CRASH

sommer zwanzichfuffzehn XXXX

Ursachen- und anlasslos erwachten sie verstimmt. Sie hatten sich in der Nacht geliebt, er hatte seine Geschichte über die aus der Welt gefallene Schlagersängerin und ihren Zombie-Bruder zu Ende erzählt, Sabrina hatte sich an Hans Krohn gepresst und war eingeschlafen. Er hatte noch ein wenig in die Dunkelheit gedacht und ihre trockene Stirn gestreichelt – dann hatte er auch Frieden.

Nun stand er auf und blickte aus dem Fenster auf den See. Erste Herbstnebel. Graue Schwaden über einem dunklen glatten Wasser. Sabrina streckte sich, fragte, was er sehe. Ach nichts, sagte er, wenn der Nebel sich verzöge, könne das ein schöner Tag werden.

„Aber der Sommer ist vorbei.“

„Ja, blöd“, antwortete sie. Ob er noch einmal ins Bett komme?

Die Frage war nett, aber der Ton stimmte nicht. Oder bildete sich Krohn das ein? Nein, an dem Ton war etwas Falsches. Außerdem lag Sabrina schon nicht mehr, sie war aufgestanden und auf dem Weg ins Bad.

Sie schloss die Tür, er blickte wieder auf den See.

Ihn verärgerten die Geräusche. Klospülung. Wasserhahn-Rauschen. Zahnbürste fuhr über ein Gebiss. Gurgeln. Ausspucken. Nichts zu hören, wahrscheinlich zog sie sich an. Er dachte mit Unwillen an ihren Slip und den Spitzen-besetzten BH, wollte nichts von ihrer Unterwäsche wissen, hatte sie aber vor Augen.

Sabrina kam aus dem Bad, sie trug Jeans und ein mattblaues T-Shirt. Das Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebündelt, ein wenig Lippenstift aufgelegt, sie sah frisch, unromantisch und bereit für den Tag aus.

Hans Krohn fühlte sich ungewaschen und war ungehalten.

Zähneputzen. Pissen. Anziehen. Sabrina fragte dazwischen, ob er bald fertig sei.

Danach in den Frühstücksraum. Er nahm nur Kaffee. Sabrina aß mit Appetit, sie legte Käsescheiben auf ein Brötchen und strich Himbeermarmelade drüber. Sonst amüsierte ihn das, aber nun fand er es ungehörig. Er konnte die Nachbarn – ein älteres Ehepaar – nicht riechen. Er hätte drein schlagen können, als der Vertreter am anderen Ende des Frühstücksraums mit seiner Sekretärin übers Handy die Termine des Tages koordinierte.

“Ich muss heute mal raus”, sagt er, Sabrina sah ihn prüfend an. “Ich leihe mir ein Rad und fahre ein bisschen durch die Gegend.”

“Ist gut.” Sie biss ins Brötchen, kaute, schluckte. Dann: “Das ist mir ganz recht. Ich muss mal wieder in meiner Wohnung vorbei schauen. Post machen und solche Sachen. Das erledige ich dann heute Abend.”

“Dann sehen wir uns nicht?”

“Weißt Du, ich habe, glaube ich, viel zu tun.”

“Okay, dann morgen wieder.”

“Ja, so machen wir es. Morgen.”

Sie beendeten das Frühstück. Sabrina beeilte sich, zum Markt zu kommen. Hans Krohn kümmerte sich ums Rad. Auf dem Weg aus der Stadt kaufte er Proviant und fuhr nordwärts.

 

 

Er ließ sich treiben. Von einem See zum nächsten, am Rhin entlang. Mittags erreichte er Rheinsberg. Er lehnte das Fahrrad an eine Mauer und setzte sich vor ein Café gegenüber dem Schloss. Krohn genoss die Sonne, bestellte einen Milchkaffee und ein Stück Kuchen. Müde Beine hatte er, aber der Missmut war weg.

Krohn kramte aus dem Rucksack sein Notizbuch und schrieb:

“Das heiße Blut, über Nacht abgekühlt. Keiner weiß, warum. Aber sie will für sich sein. Es tut weh. Ihr Blick tut weh, wenn er erkaltet. Ich bin dem nicht gewachsen.

Aber es ist schön, in der Sonne zu sitzen und es gehabt zu haben. Wahrscheinlich hat es nie eine Chance gegeben.

Oder mache ich mir nur etwas vor. Die Welt geht doch nicht aus den Fugen, wenn der Andere mal einen Tag für sich sein will.

Nur kein Drama sehen, wo keines ist. Sie möchte für sich sein – so wie ich mich jetzt für mich bin.

Ich habe das Zwei-Sein nie gut gekonnt. Und in den letzten Jahren habe ich es ganz verlernt. Ich brauche Geduld mit ihr und Geduld mit mir.”

Er legte den Stift zur Seite. Jetzt ging es ihm besser.

 

 

Eine halbe Stunde später passierte Hans Krohn den Ortsausgang von Rheinsberg in Richtung Süden. Ein Auto überholte mit großer Geschwindigkeit – so knapp, dass Krohns Rad vom Luftzug zur Seite geschoben wurde. Krohn blickte dem Raser wütend nach. Er fuhr durch eine weite Rechtskurve in den Wald. Nun führte die Landstraße 800 Meter geradeaus, dann bog sie nach rechts.

Krohn hatte Fahrt aufgenommen. In eineinhalb Stunden würde er in Neuruppin sein und sich dann einen urigen Männerabend nach gutem Sport machen.

Vor ihm – da wo die Straße die Kurve macht – gab es einen hässlichen Lärm. Reifenquietschen, Metallknirschen, dumpfe Schläge von Blech auf Holz.

Krohn blickte hoch und sah ein Auto, das schon vor einem Baum lag. Und ein anderes, das gerade auf einen Stamm zu raste und dort kreischend gestoppt wurde.

Dann war es still.

Krohn war abgestiegen und versuchte, seine Gedanken zu bändigen. Er fingerte zitternd nach dem Handy. Notruf. Eine Männerstimme, die ihn bat, sich zu beruhigen.

Er stotterte. Zwei Kilometer hinter Rheinsberg, an der großen Kurve. Ja, zwei Autos. Nein, er war zu weit weg, konnte keine Einzelheiten erkennen. Nein, da rührte sich nichts. “Es ist sehr schlimm, glaube ich. Sie müssen gleich kommen.”

Der Mann im Telefon sagte, man werde den Notarzt schickern. Und in Rheinsberg sei ein Feuerwehrfest, da könnten die Kollegen schnell vor Ort sein. “Beruhigen Sie sich und fahren Sie bitte nicht weg. Wir sind gleich da.”

Hans Krohn setzte sich aufs Rad und fuhr in Richtung des Unfalls. Aus einem Auto stieg Rauch. Er war noch 200 Meter entfernt, da überholte ihn ein Feuerwehrwagen.

Krohn stieg ab und setzte sich neben die Straße.

Später – mittlerweile waren mehrere Rettungswagen, die Polizei und ein Hubschrauber vor Ort – kam ein Polizist zu ihm.

“Haben Sie den Unfall gemeldet?”

“Ja.”

“Was haben Sie gesehen?”

Nicht viel, sagte Krohn. Der Wagen auf seiner Seite sei sehr schnell unterwegs gewesen. Und als er, Krohn, um die Kurve gebogen sei, hatte es schon gekracht. “Eigentlich habe ich nichts gesehen.”

Der Beamte notierte sich Hans Krohns Personalien. “Sie sind sehr blass, brauchen Sie Hilfe?”

Ach nein, es sei okay. Er sehe so etwas nur nicht oft. Der Polizist nickte und rief einen Sanitäter, der nichts zu tun hatte. Er solle sich den Radfahrer einmal ansehen. Der Sanitäter gab Krohn einen Traubenzucker. Hans schulterte sein Rad, kletterte durch den Graben über ein Bahngleis und trottete auf einem sandigen Waldweg am Unfall vorbei in Richtung Süden.

Sie hoben gerade einen toten Menschen auf eine Bahre. Die Straße sah aus wie eine Schrotthalde. Sogar über das Bahngleis hinweg konnte Krohn das viele Blut sehen.

Auf der Gegenfahrbahn standen die Autos, der Stau war mittlerweile über einen Kilometer lang. Die Menschen hatten die Wagen verlassen und sich zu Absperrung hin bewegt. Sie filmten und fotografierten mit den Handys. Sie hatten vor Eifer gerötete Bäckchen. Einer fragte Krohn, der ja sehr nah am Tatort gewesen war: “Sagen’Se mal, junger Mann, wieviele Tote? Das war’n doch mindestens zwei? Hat ganz schön gekracht, wa?”

Krohn fuhr schnell. Vor Lindow musste er mal in den Wald, zum Kotzen. In Lindow schüttete er in der Pizzeria drei Weißbier und drei Grappa auf die Schnelle. Als er nach Altruppin kam, hatte er beim Aldi Schwierigkeiten, das Rad sauber abzustellen. Er kaufte drei Flaschen mit billigem Rosé, schaffte es gerade noch ins Hotelzimmer. Dann taumelte er sich ins Vergessen.

Letzter Gedanke:

Das war’s mit Sabrina. Schluss. Morgen bin ich weg.