BEHERZT?

berlin, 22. Dezember 2016    —   winter 16/17, I

Im „Nostalgie“ ist es wie immer in den Tagen vor Weihnachten: Die Menschen tragen schon am Vormittag ihre Einsamkeit in die Kneipe. Sie stehen am Tresen und suchen Halt an den anderen Verlorenen. Alkohol hilft beim Wattieren der Gefühle.

Einer studiert die „Bild“. Nee, sagt er, traurig sein allein hilft nicht. Er spürt Hass und Zorn. Da treiben sich diese Kranken in unseren Städten rum, und wir warten nur drauf, dass sie ‘nen Sattelschlepper kapern und in den Weihnachtsmarkt brettern. Den Typen, der es gewesen sein kann, haben sie in Ravensburg schon mal im Knast gehabt. Hat nicht viel gefehlt, und er wäre abgeschoben worden. Aber dann haben sie ihn wieder laufen lassen.

„Das geht alles zu weit“, sagt der Mann. Gestern hat in der Zeitung gestanden, der Anschlag habe uns ins Herz getroffen. So ein Gesülze! Wir brauchen jetzt Kerle, die das alles regeln.

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Der Standbetreiber vor dem Schloss Charlottenburg ist bedrückt, ja klar. „Aber, mal unter uns: Wenn ich ehrlich bin, dann bin ich erstmal erleichtert. Wir halten den Markt offen, und die die Leute kommen. Ich habe das Gefühl, die Glühwein-Kollegen werden noch mehr Geschäft machen als sonst. Ist ja so, dass die Menschen sofort was zum Bereden haben, auch wenn sie sich nicht kennen.“

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In der Ringbahn umarmen sich eine ältere Frau und ihr Begleiter ganz doll. Der Mann ist spillerig-dürr und hat freundliche Augen. Ihr fehlt ein Schneidezahn, früher ist sie mal eine Schönheit gewesen, heute ist sie alt. Sie sieht glücklich aus. „Ich freu‘ mich auf zuhause“, sagt sie, er nickt. Sie müssen in den Osten, noch einmal umsteigen. Daheeme werden sie es sich gemütlich machen. Was Nettes zum Abendessen, ein bisschen kuscheln. Vielleicht was zum Lachen im Fernsehen. Nur keine Nachrichten. Sie haben die Nase gestrichen voll von Nachrichten.

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Alexanderplatz. Keine Zeit. Niemand hat Zeit. Von dem Herrn mit dem Schild „Nein zum Terror!“ nimmt niemand Notiz.

Am Markt gehen im „Schlaraffenland“ die Neonlichter an. Wer nicht über den Anschlag reden will, muss das nicht tun.

Wir sind, haben die Politiker beobachtet, beherzt. Also, nichts wie rein ins Vergnügen: „Chaos Airport“. „Fuzzys Lachsaloon.“ „Winter-Gaudi-Dorf“. Kommen’Se rin, können’Se raus kieken. Und wer Courage hat, lässt in der „Wilden Maus“ die Sau raus.

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Checkpoint Charlie. Ein Vater erklärt seinen Kindern, wie das früher so war mit der Mauer. Sie gucken sich die Fotos an, linsen rüber zu den Kerlen in den falschen Uniformen. Sie frieren und sind nicht sonderlich interessiert. Der Vater versucht seinen Geschichtsunterricht aufzupeppen. Das seien schreckliche Zeiten gewesen, damals. Da hätten viele Unschuldige sterben müssen.

Achja? Das Mädchen denkt nach. Dann fragt es, ob die Mauer-Zeiten vergleichbar seien mit der Sache auf dem Weihnachtsmarkt?

Der Mann sucht nach einer Erklärung. Findet keine. Schließlich meint er:

„Irgendwie ist es immer mal schlimm gewesen. Und dann haben sich die Sachen verändert. Irgendwie.“

Morgen: Tatort – den Ku’damm runter