ALTES EISEN

“2017”*, Folge 13, 30. September. Seit 2001 Minusrekord für Sonnenstunden im September.

Eddy kommt nicht mehr oft an die frische Luft. Die Gänge zu den Kneipen sind mühselig. Mit kurzen Schritten schlurft Eddy dann durch Schöneberg. Ein alter, klappriger Mann in dürftigen Klamotten. Er hat Lücken im Gebiss, rasiert sich wegen der vielen Falten nicht mehr gern. Die Füße kann er nur noch schwer heben, das Atmen ist harte Arbeit.

Er schafft es, mit ein paar Pausen von seiner Butze in die Pinte neben dem Bowie-Haus. Donnerstags hat Eddy Besuch von seiner polnischen Pflegerin. Sie mühen sich zum Lidl, auf dem Rückweg machen sie Rast im “Nostalgie”. Die Pflegerin, strenge Matrone, trinkt Kaffee und erlaubt ein Bier. Samstags trifft sich Eddy mit den verbliebenen Kumpels vor dem türkischen Bäcker an der Kulmer Straße. Dort gibt es Bier aus dem Kühlschrank, das die Herren aus der Flasche trinken. Früher waren sie zu sechst, aber zwei sind weg gestorben und einer schafft es nicht mehr aus dem Haus. So sitzt nun das Trio auf der Terrasse und redet Woche für Woche. Es gibt nicht viel zu bequatschen, eigentlich. Die Sonderangebote beim Aldi. Arztbesuche, Krankheiten, Sterbefälle. Die “Bild”-Zeitung, die Ausländer, die Hertha. So’ne Sachen. Die Trinker werden nicht besoffen, dazu reicht die Kraft nicht, aber im Lauf des Nachmittags legt sich wattige Wohlheit über den Tisch.

Der Weg nach Hause freilich ist außerordentlich beschwerlich.

Also, am liebsten plagt sich Eddy vormittags in seine Stammkneipe an der Hauptstraße. Er sinkt in den Sessel und knallt sich behutsam zu.

Schön, wenn einer wie der Horst auftaucht. Da hat Eddy was zum Gucken und Hören. Ist wie Fernsehen live.

Nun dreht sich Horst zum alten Mann um und ruft durch den Raum.

“Hey Eddy, hab’ Dich gesehen. Am Sonntag. Weißte noch?”

Nein, nicht richtig. Wo soll das gewesen sein.

Naja, bei der Wahl. Lokal Nummer 206 in der Leberstraße. Mit einer süßen Schnecke sei der Eddy da unterwegs gewesen.

Achso, ja. Das war die Enkelin. Die hat den Opa zur Wahl begleitet.

“Du sachma, die is ja schnucklig. Noch zu haben? Ejal. Aber ick hab mir Sorgen jemacht, wie ick dir so jesehen hab.”

Warum das denn?

Naja, erzählt Horst. Eddy sei doch recht wacklig daher gekommen. Ein Glück, dass er sich bei seiner Enkelin unterhaken konnte. Und er habe auf dem Trottoir vor dem Wahllokal schnaufend Halt gemacht und erklärt – Horst müht sich sich ums authentische Zitat:

“Das war recht anstrengend. Gut, jetzt haben wir das auch. Ich bin froh.”

Da habe die Enkelin gefragt, worüber der Großvater sich freue. Und er habe erklärt:

“Das waren die letzten Wahlen meines Lebens. Das war’s.”

Eddy erinnert sich und nickt.

“Is doch Scheiße, Alter.” Horst schreit es fast.

Der alte Mann in seinem Sperrmüllsessel lächelt. Nichts ist Scheiße. Was wahr ist, bleibt wahr.

Er lehnt sich zurück und lässt sich treiben. In Gedanken wird er zum Kind.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.