LIEBE IN BERLIN

 

berlin, 16. januar 2017       —–     winter 16/17, Folge X.

Hilde Küneke verlässt ihren Mann 37 Tage vor dessen Tod. Fürs Erste kommt sie bei einer Freundin unter, mietet anschließend ein winziges Zimmer in Neukölln. Hilde ist ein kleiner Pappkoffer geblieben – mit etwas Leibwäsche, einem Kostüm, ein paar Fotos und den nötigen Toilettenartikeln. Den Rest hat sie in der ehelichen Wohnung zurück gelassen. Nach Pits Tod will sie ihre Sachen holen, doch Pit hat alles, alles, alles durchgebracht. Hilde bleibt auf den Begräbniskosten und seinen Schulden und ansonsten einem großen Nichts sitzen.

Auch gut.

 

 

Das war’s mit den Kerlen. Nie mehr, schwört sich Hildchen Küneke – und sie hält sich dran. Eine fidele sinnliche Frauensperson ist sie, sie tanzt gern und tändelt mit den Herren. Aber in die Kiste lässt sie sich nicht mehr kriegen.

Eine Freundin, hübsch beschwipst, sagt mal zu ihr: „Kommst Du Dir nicht komisch vor? Du bist ja da unten wie zugenäht.“

„Ach, das ist okay. Da habe ich wenigstens keine Probleme. Ich brauch’ keinen Mann mehr, das kannste mir glauben.“

 

Hilde Küneke ist eine energische Frau mit einem starken Willen. Sie bezahlt die Schulden, die ihr Pit – der Herr möge ihn zum Teufel schicken – hinterlassen hat. Sie arbeitet hart. Eröffnet einen kleinen Handel für gebrauchte Möbel in Kreuzberg. Der läuft bis in die 80er ziemlich gut, dann wandert die Kundschaft zum IKEA in Spandau ab.

 

Nun sitzt Hildchen an dem kleinen Tischchen in der Garage inmitten der vielen Möbel, die niemand mehr will. Manchmal verscherbelt sie was an neu zugezogene Türken – doch davon kann sie nicht leben.

Hildegard Küneke muss putzen gehen. Sie hat nette Kundschaft, in zwei besseren Häusern in der oberen Kantstraße. Altbau, ganz hohe Zimmer. Große Fenster mit einem Glas, das man nie schlierenfrei kriegt. Perserteppiche und jede Menge Tinnef zum Abstauben. Aber die Arbeit macht Spaß. Hilde kann sich die Zeit nach ihrer Fassong einteilen, niemand quatscht ihr rein. Oft ist die Herrschaft wochenlang nicht im Lande, die haben noch eine Finca auf Mallorca und Olivenhaine in Italien.

 

Zwölf Monate Arbeit im Jahr. Urlaub, nee, warum auch, mit wem auch? Manchmal trifft sie sich mit Freundinnen auf ein Glas Wein, ansonsten hat sie keine nennenswerten Ausgaben. Hilde kann jeden Monat ein kleines Sümmchen aufs Sparbuch einzahlen.

Die Stadt verkommt ein wenig, und das Wohnen wurde erschwinglich. In Charlottenburg findet Hilde Küneke eine kleine Wohnung, in der sie es sich gemütlich macht. Sie richtet’s sich schön ein: viel Plüsch, viel schnörkeliges Porzellan, dicke Teppiche und dicke Gardinen. Jede Fensterbank voller Pflanzen. Zwei Katzen und ein Kanari-Pärchen. Schöner Fernsehsessel, kuschliges Bett. Hilde Küneke macht es sich wohl.

Es ist, als ob das laute Leben vor der Wohnungstür in ein anderes Stück gehört. Hilde Küneke schließt hinter sich zu und ist mit ihrer kleinen Idylle allein.

Ihr größter Luxus sind die Besuche im Zoo. Sie liebt es, den Affen und den Elefanten zuzusehen. Besonders gern geht sie zu den Raubtieren.

Und dann kommt dieser Knut zur Welt. Dieser Knuddelbär in Weiß. Dieses hilfsbedürftige Knäuel, das von einem bulligen Kerl im Holzfällerhemd aufgepäppelt wird. Es ist so rührend zu sehen, wie zärtlich Thomas Dörflein (der Holzfäller-Typ) mit „Knut“, dem neuen Berliner Liebling, umgeht.

Da Hilde nur noch einmal in der Woche putzen muss, hat sie nun viel Zeit für ihre „zwei Männer“. Täglich kommt sie, setzt sich auf ihre Bank und schaut. Sie erklärt unkundigen Zoobesuchern, was es mit dem Eisbären auf sich hat. Sie gibt Fernsehteams aus aller Welt Interviews. Sie ist die Expertin für Knut.

Manchmal setzt sich Dörflein neben sie, und sie trinken ein Bierchen und einen Piccolo. Dörflein ist ein Schwerenöter und er weiht Hilde in alle Affären ein, die ihn heimsuchen, seit er eine Art Star ist. Sie liebt die Geschichten. „Ich bin seine echte Freundin“, sagt sie zu ihren Bekannten. „Ich weiß doch alles über den Thomas.“

Dann stirbt Dörflein. Man munkelt, er habe es mit dem Viagra übertrieben und sei gerade voll am Machen gewesen, als er über der neuen Freundin zusammenbrbricht. Die Gerüchte empören Hilde Küneke, obwohl sie weiß, dass was dran ist. Aber selbst wenn es stimmt – sie will es einfach nicht hören.

Sie will ihren Thomas so in Erinnerung behalten, wie es auch dessen Mutter Erika tut. Die kann richtig gut mit Hilde. Als sie sich wieder mal über den Weg laufen und über die schlimmen Schlagzeilen sprechen, steckte sich die alte Frau eine Zigarette in ihr aschgraues Gesicht und graunzt mit Schmirgelstimme: „Is imma ’n juta Junge jewesn – un wer wat Anderes sacht, der kriecht mächtich Ärger.“

Erika ist eine geschrumpfte kleine alte Frau – doch wenn sie sich für ihren toten Sohn streitbereit macht, muss man sie fürchten.

 

 

Nun erwischt es Knut. Irgendetwas mit seinem Hirn ist nicht in Ordnung. Die Menschen trauern sehr um den Eisbären, der sich vom weißen Kuschelknäuel zum riesigen Raubtier ausgewachsen hat.

Hilde Künekes Leben gerät aus den Fugen. Jeden Tag fährt sie in die Stadt, marschiert, ihre braune geräumige Handtasche schwenkend, zum Freigehege, setzt sich auf ihre Bank und blickte unverwandt auf die Felsen und den Wassergraben, sieht Knuts lebendigen Artgenossen zu, isst Stullen aus der Handtasche und trinkt Kaffee aus der Thermosflasche. Am späten Nachmittag legt sie eine rote Rose ans Schutzgitter und fährt nach Hause zurück.

Sie telefoniert viel mit anderen Knut-Freundinnen (Männer interessieren sich nicht für die Geschichte, typisch!). Im Wohnzimmer richtet sie einen Schrein ein, wo alles einen Ehrenplatz bekommt, was an Knut oder Thomas erinnert. Bald schon reicht der Platz nicht mehr, und so wird aus dem Schrein ein kleines Privatmuseum.

 

Hilde Küneke hatte noch ein letztes Mal eine Aufgabe. „Wissen’Se“, sagt sie. „Wissen’Se, ich muss das alles tun, sonst macht et keener. Wär doch zu blöd, wenn man so was Wertvolles wie den Knut vergessen würde. Oda?“

Hilde hat lebendige, manchmal fröhliche, immer noch neugierige Augen. Aber oft verliert sich das Fröhliche, und in den Augen ist tiefe Traurigkeit. So, wie die Frau raucht und hustet, wird sie nicht mehr lange leben.

 

Und ein Knut wird ihr wohl auch nicht mehr geschenkt auf ihre letzten Tage.

Nächste Folge: Tanz aufm Grab